Zum Endes dieses Jahres und im Hinblick auf Weihnachten wollen wir euch nochmal ein bisschen hinter dem schön eingeheizten Ofen vorlocken. Vielleicht mit den folgenden Gedanken euch auch ein bisschen herausfordern.
Vorbemerkung
Hannah Arendt ist fasziniert über den Menschen. Darüber, dass er nicht nur zwei Dinge gleichzeitig kann, sondern gleichzeitig ist. Er ist Mensch, so wie alle anderen Menschen um ihn herum. Der Mensch ist mit anderen Gleichartig. Und trotzdem ist er von anderen verschieden. Der Mensch ist einzigartig. Diese Einzigartigkeit hat jeder einzelne Mensch nicht, weil er irgendwas besonders kann. Sondern, so sagt es Arendt, einfach weil er geboren ist. Durch seine Geburt ist jeder Mensch ein Neuanfang. Und mit jedem Mensch erhält die Welt die Chance neu anzufangen. Menschen sind also laut Arendt Anfänger. Anfänger, die für jede Überraschung gut sind. Die Welt und wir alle brauchen gerade, und nicht nur in Krisen, solche Neuanfänger. Lassen wir sie doch zur Welt kommen. Treiben wir sie nicht ab. Ja, natürlich, das sagt Arendt auch: Neuanfänge kann man nicht planen, kommen meist unverhofft und manchmal sogar ungewollt. Aber Neuanfänge, und das ist das Schöne, muten uns immer ein Wunder zu!
Wer diese Gedanken gern in Arendts eigenen Worten formuliert lesen möchte, dem wünschen wir gleich viel Freude beim lesen. Wir wünschen euch ein gesegnetes Weihnachtsfest, bei dem es um einen solchen, alles verändernden Neuanfang geht.
„Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben; und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man nennt seinen Namen: Wunderbarer, Ratgeber, starker Gott, Ewig-Vater, Friedefürst.“ Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Das Wunder Mensch nimmt seinen Anfang
Ein Faktum der menschlichen Pluralität, so Hannah Arendt, sei unsere Gleichartigkeit und Verschiedenheit.1 „Ohne Gleichartigkeit gäbe es keine Verständigung unter Lebenden, kein Verstehen der Toten und kein Planen für eine Welt, die nicht mehr von uns, aber doch immer noch von unseresgleichen bevölkert sein wird. Ohne Verschiedenheit, das absolute Unterschiedensein jeder Person von jeder anderen, die ist, war oder sein wird, bedürfe es weder der Sprache noch des Handelns für eine Verständigung; eine Zeichen- und Lautsprache wäre hinreichend, um einander im Notfall die allen gleichen, immer identisch bleibenden Bedürfnisse und Notdürfte anzuzeigen.“2
Unter den Lebewesen sei es nur der Mensch, der seine individuelle Verschiedenheit aktiv zum Ausdruck bringen könne. Wobei Arendt noch zwischen Verschiedenheit, Besonderheit und bloßem Anderssein unterscheidet. Tja, so kompliziert machen das die Philospophen eben manchmal. Aber jeder hat ja seinen eigenen, seinen von anderen verschiedenen Zugang zur Welt. Hören wir nochmal Arendt:
Neben dem aktiven zum Ausdruck bringen seiner Verschiedenheit sei es eine Fähigkeit des Menschen „sich selbst von Anderen zu unterscheiden und eventuell vor ihnen auszuzeichnen, und damit schließlich der Welt nicht nur etwas mitzuteilen – Hunger und Durst, Zuneigung oder Abneigung oder Furcht -, sondern in all dem auch immer zugleich sich selbst.“3 So z.B. wenn ein Kind schreit und seine Mutter es unter anderen Kindern heraus hört. Oder das Kind sich nur durch die Stimme der Mutter beruhigen lässt. Es genügt nicht nur Hunger und Durst gestillt zu bekommen, es muss auch die richtige Person sein. Das Kind schreit nicht nur etwas heraus, sondern immer auch sich selbst.
„Im Menschen wird die Besonderheit, die er mit allen Seienden teilt, und die Verschiedenheit, die er mit allem Lebendigen teilt, zur Einzigartigkeit, und menschliche Pluralität ist eine Vielheit, die die paradoxe Eigenschaft hat, daß jedes ihrer Glieder in seiner Art einzigartig ist.“4
Diese Einzigartigkeit, so stellt Arendt für uns überraschend fest, die jeden von jedem, der war, ist, oder sein wird unterscheidet, beruht nicht so sehr auf dem Tatbestand bestimmter Qualitäten „oder der einzigartigen Zusammensetzung bereits bekannter Qualitäten in einem ‚Individuum‘ […] sondern vielmehr auf dem alles menschliche Zusammensein begründenden Faktum der Natalität […], der Gebürtlichkeit, kraft deren jeder Mensch einmal als ein einzigartiges Neues in der Welt erchienen ist.“5 Wir sparen uns hier den Seitenhieb an Peter Singer und seine Version des Utilitarismus.
Rüdiger Safranski hebt in Einzeln Sein diesen Gedanken noch einmal hervor und schreibt, dass Arendt der „Gebürtlichkeit“ eine originelle Wendung gebe. „Denn zunächst einmal bedeutet ja, geboren worden zu sein, dass man zuerst angefangen worden ist, ehe man selbst etwas anfängt.“6 Arendt berufe sich sogar auf Kant, so Safranski, der in dem Fall von einem „Skandal des Anfangs“ sprach. Der Mensch erleide an seinem Anfang, so Kants Gedanken, die Tat seiner Eltern, „die eigentlich eine Untat ist, weil sie eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie hinübergebracht haben. Das Geschrei des Neugeborenen müss man deshalb wohl als Ausdruck der Entrüsung verstehen. Aus diesem Grund seien die Eltern verpflichtet, diese kleine Person mit diesem ihrem Zustand zufrieden zu machen.“ Dies, so formuliert Safranski Kants Gedanken weiter, könne nur gelingen, wenn sich die Kräfte der Selbstbestimmung, auch Vernunft genannt, entwickeln“7 dürfen. „Dass ich angefangen worden bin, ist erträglich, wenn ich lerne, selbst anzufangen.“8
Mit der Geburt des Menschen, mit seiner Erschaffung, so formuliert Arendt den „Skandal des Anfangs“ um, sei das „Prinzip des Anfangs“9 in die Welt gekommen. Das „Anfangen eines Wesens, das selbst im Besitz der Fähigkeit ist anzufangen: es ist der Anfang des Anfangs oder Anfangens selbst.“ 10
Jeder Mensch sei ein Neuankömmling auf Erden, der die Initiative ergreifen, ein Anfänger werden und Neues in Bewegung setzen könne.11 „Es liegt in der Natur eines jeden Anfangs, daß er von dem Gewesenen und Geschehenen her gesehen, schlechterdings unerwartet und unerrechenber in die Welt bricht.“12 Die Unvorhersehbarkeit des Ereignisses wohne allen Anfängen und allen Ursprüngen nun einmal inne, so Arendt. Deswegen sehe ich es äußerst kritisch wenn eine ungewollte Schwangerschaft per se verteufelt, in einen Schwangerschaftskonflikt gebracht und als vermeintlicher Abtreibungswunsch deklariert wird. So sprach z.B. Sevim Dağdelen in der jüngsten Bundestagsdebatte von einem „Recht auf einenselbstbestimmten Abbruch von ungewollten Schwangerschaften bis zur zwölften Woche“.13 In der derzeitigen Debatte ist es u.a. das Ziel ungewollte Schwangerschaften unbedingt zu vermeiden. Eine sehr bedenkliche Entwicklung. Damit rauben wir uns und dieser Welt viele und dringend herbei gesehnte Neuanfänge.
„Der Neuanfang steht stets im Widerspruch zu statistisch erfaßbaren Wahrscheinlichkeiten, er ist immer das unendlich Unwahrscheinliche; er mutet uns daher, wo wir ihm in lebendiger Erfahrung begegnen – das heißt in der Erfahrung des Lebens, die vorgeprägt ist von den Prozeßabläufen, die ein Neuanfang unterbricht -, immer wie ein Wunder an.“14
„Geboren werden Anfänger, die für jede Überraschung gut sind, solange ihnen nicht das Vielversprechende ausgetrieben wird.“15 Oder die sogar abgetrieben werden. Abgetrieben, weil sie angeblich noch keine richtigen Menschen seien. Dabei haben sie mit der Zeugung ihr Menschsein erst angefangen:
„Sie sind Anfänger? Ja, mein Bester so leicht geht die Sache im Leben aber nun doch nicht. Nein, das denken Sie sich doch wohl ein bisschen einfach. So mir nichts, dir nichts macht man keine Karriere! Sie unterschätzen die Verantwortung von uns Unternehmern! Einen Anfänger bringen, das kann den Ruin bedeuten. […] Werden sie Jemand!“16
Vor der Erzeugung des Menschen habe es nicht nichts gegeben, so Arendt, , sondern Niemand und mit der Erschaffung des Menschen gebe es schließlich Jemand.17 Gestehen wir dem gezeugten, dem geschaffenen Menschen, dem Anfänger, seine Geburt zu, damit er zu seiner zweiten Geburt gelangen kann, in der er selbstbestimmt die Initiative ergreift und sich sprechend und handelnd in unsere Welt einschaltet.18 „Diese Einschaltung ist wie eine zweite Geburt, in der wir die nackte Tatsache des Geborenseins bestätigen [und] gleichsam die Verantwortung dafür auf uns nehmen.“19
Lassen wir doch spontane, unvorhergesehene, unerrechenbare und ungeplante Neuanfänge in unserer Welt wieder öfter zu. Ermutigen wir die Menschen, Eltern, Frauen und Mütter, Männer und Väter. ganze Familien zu solchen Neuanfängen und freuen wir uns, dass es trotz aller Krisen und Weltuntergänge am Horizont, doch das Prinzip des Anfangs unter uns, in dieser Welt, gibt.
Wir wünschen euch ein gesegnetes Weihnachtsfest, bei dem es um einen solchen, alles verändernden Neuanfang geht.
„Denn ein Kind ist uns geboren, ein Sohn ist uns gegeben; und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und man nennt seinen Namen: Wunderbarer, Ratgeber, starker Gott, Ewig-Vater, Friedefürst.“20 Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr!
Quellen: Bildnachweise: Mutter_Kind_Decke: https://unsplash.com/photos/woman-in-white-red-and-green-floral-shirt-4crXipFM1hc?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Krippe: https://unsplash.com/photos/the-nativity-figurines-ZiCz-oW1LXA?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Baby_im_arm: https://unsplash.com/photos/a-man-holding-a-baby-in-his-arms-V106bb1a9BY?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Titelbild: https://unsplash.com/photos/baby-in-white-and-gray-blanket-zNB9tNmDKv8?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
1 Vgl. Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Erweiterte Neuausgabe, 2. Auflage Mai 2021, Piper Verlag GmbH, S. 239.
2 ebd., S. 239f., Hervorheb. d. Autors.
3 ebd. S. 240.
4 ebd., Hevorheb. d. Autors.
5 ebd., S. 243f.
6 Rüdiger Safranski, Einzeln Sein, 1. Auflage, 2021, Carl Hanser Verlag, S. 216.
7 ebd.
8 ebd.
9 Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Erweiterte Neuausgabe, 2. Auflage Mai 2021, Piper Verlag GmbH, S. 242.
10 ebd.
11 Vgl. ebd.
12 ebd., S. 243, Hervorheb. d. Autors.
13 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 203. Sitzung, https://dserver.bundestag.de/btp/20/20203.pdf, S. 146 von 250.
14 ebd., Hervorheb. d. Autors.
15 Rüdiger Safranski, Einzeln Sein, 1. Auflage, 2021, Carl Hanser Verlag, S. 216.
16 Der Direktor zu Beckmann in Wolfgang Borchert, Draußen vor der Tür, Hamburger Lesehefte Verlag, 250. Heft, S. 31.
17 Siehe Hannah Arendt, Vita Activa oder Vom tätigen Leben, Erweiterte Neuausgabe, 2. Auflage Mai 2021, Piper Verlag GmbH, S. 242.
20 Die Bibel, der Propeht Jesaja, Kapitel 9 Vers 5, Schlachter 2000 Übersetzung, https://www.bibleserver.com/SLT/Jesaja9%2C5.
Ela
😵💫
„Die Freiheit des Menschen liegt nicht darin, dass er tun kann, was er will, sondern, dass er nicht tun muss, was er nicht will.“
(Jean-Jacques Rousseau 1712-1778 schw.-frz. Phil.)
Das Wort ‚Selbstbestimmung‘ kann ich bald nicht mehr hören. Eine Gesellschaft funktioniert nicht mit so vielen ‚Selbst‘.
Klingt wie ein 3 jähriges Kind in der Trotzphase: „Selber! Alleine! Ich!“
Erwachsene Menschen sollten das überwunden haben und sich auf das: „Für dich! Für uns! Wir!“ konzentriert haben.