[Teil 2 von 4]
Um eine genaue Definition für diese sperrigen Begriffe zu finden, müssen wir wieder nach Kairo. Dort, auf der Weltbevölkerungskonferenz 1994, werden diese Begriffe zum ersten Mal erwähnt. Dort finden wir Antworten, was wir uns darunter vorzustellen haben und ob es SRGR so die Abkürzung (engl. SRHR), die in vielen (teils offiziellen) Dokumenten zu finden sind, überhaupt gibt.
Vorüberlegung 1: Warum hier?
Mag. Antonia Holewik (Institut für Ehe und Familie) schreibt in „Sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte – Hintergrundinformation„: „Es ist kein Zufall, dass die erste Erwähnung und Definition von reproduktiver Gesundheit und den damit verbundenen Rechten auf einer Weltbevölkerungskonferenz erfolgte. Vielmehr macht es die anfängliche Verknüpfung der SRHR-Agenda mit der Bevölkerungspolitik und damit der Kontrolle bzw. Eindämmung des Bevölkerungswachstums deutlich.“1
Vorüberlegung 2: Genau hingeschaut?
Wenn von „sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte“ (SRGR) die Rede ist, werden damit eigentlich vier eigenständige Begriffe angesprochen: SRGR setzen sich nämlich zusammen aus (1) „reproduktiver Gesundheit“, (2) „sexueller Gesundheit“, (3) „reproduktiven Rechten“ und (4) „sexuellen Rechten“.
Und um SRGR nun mit Leben zu füllen, brauchen wir für alle vier genannten Begriffe jetzt eine Definition. Also los geht’s.
(1) Reproduktive Gesundheit
Im Abschlussdokument der Weltbevölkerungskonferenz (Kairo) finden wir unter Punkt 7.2 zuerst die „reproduktive Gesundheit“ beschrieben:
Reproduktive Gesundheit „ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheiten oder Gebrechen in allen Bereichen, die das Fortpflanzungssystem und seine Funktionen und Prozesse betreffen. Reproduktive Gesundheit bedeutet daher, dass die Menschen in der Lage sind, ein befriedigendes und sicheres Sexualleben zu führen, und dass sie die Fähigkeit haben, sich fortzupflanzen und frei zu entscheiden, ob, wann und wie oft sie dies tun. Diese letzte Bedingung beinhaltet das Recht von Männern und Frauen auf Information und Zugang zu sicheren, wirksamen, erschwinglichen und akzeptablen Methoden der Familienplanung ihrer Wahl sowie zu anderen Methoden ihrer Wahl zur Regulierung der Fruchtbarkeit, die nicht gegen das Gesetz verstoßen, und das Recht auf Zugang zu angemessenen Gesundheitsdiensten, die es Frauen ermöglichen, Schwangerschaft und Geburt sicher zu durchlaufen, und die Paaren die besten Chancen auf ein gesundes Kind bieten.“2
(2) Sexuelle Gesundheit
Selber Punkt im Abschlussdokument (7.2):
„Sie [die reproduktive Gesundheit] beinhaltet auch die sexuelle Gesundheit, deren Ziel die Verbesserung des Lebens und der persönlichen Beziehungen ist, und nicht nur die Beratung und Betreuung in Bezug auf Fortpflanzung und sexuell übertragbare Krankheiten.“3
Offiziell spricht man auch, wenn man sich auf die Definition von Kairo bezieht, von „sexueller und reproduktiver Gesundheit“ (SRG).
(3) Reproduktive Rechte
„In Anbetracht der obigen Definition umfassen die reproduktiven Rechte bestimmte Menschenrechte, die bereits in nationalen Gesetzen, internationalen Menschenrechtsdokumenten und anderen Konsensdokumenten anerkannt sind. Diese Rechte beruhen auf der Anerkennung des Grundrechts aller Paare und Einzelpersonen, frei und verantwortungsbewusst über die Anzahl, die Abstände und den Zeitpunkt [der Geburt] ihrer Kinder zu entscheiden und über die entsprechenden Informationen und Mittel zu verfügen, sowie auf dem Recht, den höchsten Standard der sexuellen und reproduktiven Gesundheit zu erreichen.“4
Achtung: Familienplanung ohne Abtreibung!
Mehrere Länder und Organisationen waren damals ursprünglich fest entschlossen, den über die Jahre etablierten Begriff der „Familienplanung“ allen Ernsten nun um „Abtreibung“ zu erweitern. „Abtreibung“ jedoch in die „Familienplanung“ zu integrieren, das wäre nicht weniger als einem lupenreinen „Menschenrecht auf Abtreibung“ gleich gekommen! Aber, so Antonia Holewik:
„Dass das Abschlussdokument der Weltbevölkerungskonferenz 1994 von insgesamt 179 Staaten einstimmig angenommen wurde, ist vor allem auf die im Zusammenhang mit den reproduktiven Rechten eingefügten Vorbehalte in Bezug auf Abtreibung zurückzuführen. In dem Dokument wird nämlich festgehalten, dass Abtreibung nicht als Methode der Familienplanung gefördert werden darf und die Regierungen geeignete Maßnahmen treffen sollen, um Frauen dabei zu helfen, von einer Abtreibung abzusehen (Punkt 7.24). Im Kairoer Aktionsprogramm ist außerdem vom Einsatz für eine völlige Eliminierung des Bedarfs an Abtreibungen die Rede (Punkt 8.25) und es wird hervorgehoben, dass Angelegenheiten, die die Abtreibung betreffen, nur auf innerstaatlicher und lokaler Ebene geregelt werden dürfen.“5
(4) Sexuelle Rechte?
Tut uns jetzt leid, aber in Kairo sucht man die sexuellen Rechte vergeblich! Geplant war das nicht. „Sexuelle Rechte“ tauchen im Abschlussdokument der Weltbevölkerungskonfrenz schon auf, zugegeben. Aber nur hinten bei den „Reservations“ (Vorbehalten).6 Über „sexuelle Rechte“ konnte damals kein Konsens, kein gemeinsamer Nenner gefunden werden. Deswegen werden sie vorn, bei den eigentlichen Punkten nicht erwähnt.7
Auch im Jahr darauf, bei der Weltfrauenkonferenz in Peking (1995) findet man „sexuelle Rechte“ nicht in dem Maße, nicht so explizit definiert wie die anderen Begriffe (SRG und RR).8 Um „sexuelle Rechte“ doch noch irgendwie in einem Abschlussdokument unterzubringen, gab es einen Versuch, den wir nicht unerwähnt lassen wollen: „Die Menschenrechte der Frau umfassen auch ihr Recht, frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt über Angelegenheiten im Zusammenhang mit ihrer Sexualität, einschließlich der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, bestimmen und frei und eigenverantwortlich entscheiden zu können. Ein gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Frauen und Männern in Bezug auf die sexuellen Beziehungen und die Fortpflanzung, was die uneingeschränkte Achtung der Unversehrtheit des Menschen einschließt, erfordert gegenseitige Achtung, Einverständnis und gemeinsame Verantwortung für das Sexualverhalten und dessen Folgen.„9
Aber „Menschenrechte der Frau“ sind keine „sexuellen Rechte“. In Kairo 1994 hatte das Definieren noch besser geklappt: Wenn „reproduktive Gesundheit“ gemeint war, stand da auch „reproduktive Gesundheit“. Doch jetzt in Peking 1995 den „Menschenrechten der Frau“ auch noch „sexuelle Rechte“ unterzujubeln, war „leider“ nicht möglich. Aber warum sind die „sexuellen Rechte“ im Zusammenhang mit SRGR eigentlich so wichtig? Wie wir im nächsten Beitrag sehen werden, verstehen einige Organisation, z.B. die IPPF (International Planned Parenthood Federation), unter „sexuellen Rechten“ u.a. ein Recht auf Abtreibung. Das an dieser Stelle schon mal vorweg. Abtreibung jedoch ist in Bezug auf die Familienplanung, wie wir oben gesehen haben, auf Basis der Abschlusserklärungen (Kairo ’94, Peking ’95) vom internationalen Tisch.
Aber nun sind „sexuelle Rechte“ weder im Kairoer noch im Pekinger Aktionsprogramm enthalten. Somit gibt man zähneknirschend zu, dass es „[b]isher […] der internationalen Gemeinschaft nicht gelungen [ist], sich auf eine Definition der sexuellen Rechte zu einigen.“10
Gibt es nun sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (SRGR)?
Wir haben eingangs darauf hingewiesen, dass der Begriff der SRGR eigentlich aus vier Begriffen besteht. Ausgehend von den Abschlussdokuemten von Kairo und Peking konnten wir drei der vier, nämlich (1) die „reproduktive Gesundheit“, (2) die „sexuelle Gesundheit“ und (3) die „reproduktiven Rechte“, genau definieren. Das fehlende Puzzle, damit SRGR als Begriff vollständig funktionieren bzw. überhaupt existieren könnten, fehlen (4), die „sexuellen Rechte“. Damit kann es keine SRGR geben! Damit sollt es eigentlich bei den offiziel verhandelten und international anerkannten SRG (sexuelle und reproduktive Gesundheit) und RR (reproduktive Rechte) bleiben.
Alle Unklarheiten beseitigt!
Will man dennoch SRGR als Begriff verwenden, oder kommt man um die Verwendung nicht herum, so empfehlen wir folgende mögliche Definition, wie sie in einem Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und SPD (Drucksache 18/1958) von 2014 formuliert ist:
„Der Begriff ‚Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte‘ ist […] als identisch mit den im Aktionsprogramm von Kairo definierten Begriffen ‚reproduktive Rechte‘ und ’sexuelle und reproduktive Gesundheit‘ zu verstehen und hat keine über diese Definitionen hinausgehende Bedeutung, insbesondere statuiert er kein Recht auf Schwangerschaftsabbruch.“11
Hinweis: Fragt doch bitte nach, wenn Euch gegenüber der Begriff SRGR verwendet wird, was darunter verstanden wird! Denn usprünglich, noch bevor – wie wir gleich sehen werden – Nichtregierungsorganisationen die Begrifflichkeiten umzudeuten versuchten, beinhalteten die Begriffe SRG und RR keine Abtreibung. Denn in der Abschlusserklärung12, in der diese Begriffe definiert wurden, existiert ebenfalls der Punkt 7.24.: „Die Regierungen sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um Frauen zu helfen, Abtreibungen zu vermeiden, die auf keinen Fall als Methode der Familienplanung gefördert werden sollte, und in allen Fällen für eine humane Behandlung und Beratung von Frauen sorgen, die eine Abtreibung in Anspruch genommen haben.“ Und der Punkt 8.25: „In keinem Fall sollte die Abtreibung als Methode der Familienplanung gefördert werden.“
Wer mehr wissen will:
Dem empfehlen wir:
Mag. Antonia Holewik’s (Institut für Ehe und Familie) „Sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte – Hintergrundinformation„
Rebecca Oas‘ (C-Fam) „Why not SRHR?„
Sophia Kuby; Die EU – Komplizin der Abtreibungspolitik in Entwicklungsländern?; in Büchner, Kaminski, Löhr (Hg.); Abtreibung – ein neues Menschenrecht?; Sinus Verlag; 2. Auflage; 2014; S. 173-181
Dr. Stephanie Merckens: Was sind die sogenannten „sexual and reproductive health rights“?
Und: Dale O’Leary, The Gender Agenda – Redifining Equality, Vital Issues Press, 1997
Du befindest dich in Teil 1 – Teil 2 – Teil 3 – Teil 4
Quellen:
ALLE aufgerufen am 05.09.2022 und übersetzt mit DeepL.com
1: Sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte – Hintergrundinformation„; Antonia Holewik; Institut für Ehe und Familie (IEF); 2022; S. 2; mit freundlicher Genehmigung von Frau Holewik dürfen wir hier das gesamte Dokument zur Verfügung stellen
2: https://www.un.org/development/desa/pd/sites/www.un.org.development.desa.pd/files/icpd_en.pdf; S.44 von 197 (Angabe entspricht der PDF Seitenzählung); Punkt 7.2
3: ebd.; Anmerkungen und Hervorheb. d. Autors
4: ebd.; Punkt 7.3.; Hervorheb. Autors
5: vgl. Fn. 1 | Punkt 7.24.: „Die Regierungen sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um Frauen zu helfen, Abtreibungen zu vermeiden, die auf keinen Fall als Methode der Familienplanung gefördert werden sollte, und in allen Fällen für eine humane Behandlung und Beratung von Frauen sorgen, die eine Abtreibung in Anspruch genommen haben.“ | Punkt 8.25: „In keinem Fall sollte die Abtreibung als Methode der Familienplanung gefördert werden […] und es sollte jeder Versuch unternommen werden, die Notwendigkeit eines Schwangerschaftsabbruchs zu beseitigen“ | vgl. https://youngandfree-kaleb.de/wp-content/uploads/2020/08/kairo_1994_zielsetzungen.pdf
6: vgl. Fn. 2; suche (STRG + F) nach „sexual rights“ (Wenn english Hilfe benötigt, empfehlen wir DeepL.com). Siehe S. 139, 140, 144, 146, sowie 149 von 197 (Angabe entspricht der PDF Seitenzählung)
7: https://youtu.be/8KkSzGEmBTs?t=370: Why not SRHR: C-Fam-Experten erörtern, wie der Begriff benutzt wird, um sexuelle Rechte auf Kosten der Familie, gefährdeter Frauen und Mädchen und des ungeborenen Kindes zu fördern: Stefano Gennarini erklärt in dem verlinkten Video, dass „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (SRGR)“ zwei Begriffe verschmelzen, „die auf der internationalen Konferenz für Bevölkerungsentwicklung separat definiert wurden. Einerseits die sexuelle reproduktive Gesundheit und andererseits die reproduktiven Rechte. Obwohl die beiden Begriffe miteinander verbunden sind, wurden sie getrennt definiert, und einer der Gründe dafür war, genau den Begriff der sexuellen Rechte auszuschließen, den viele Länder damals als anstößig empfanden und immer noch empfinden.“ (Min. 14:36ff.)
8: Why Not SRHR?, Rebecca Oas, Ph.D., C-Fam Definitions, 2021 (https://c-fam.org/wp-content/uploads/Why-Not-SRHR-2.pdf), S. 1f.: „Das auf der bahnbrechenden Internationalen Konferenz über Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) 1994 in Kairo ausgehandelte Aktionsprogramm enthält mehrere Verweise auf die „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ sowie auf die „reproduktiven Rechte“. Die beiden Begriffe werden zwar in Beziehung zueinander gesetzt, aber getrennt voneinander definiert. Im darauf folgenden Jahr fand in Peking die Vierte Weltfrauenkonferenz statt, deren Verhandlungsergebnis, einschließlich der Aktionsplattform von Peking, ebenfalls auf „sexuelle und reproduktive Gesundheit“ und „reproduktive Rechte“ Bezug nimmt, und zwar unter Bezugnahme auf das ICPD-Ergebnis (SRH und RR). Beide Konferenzen einigten sich nicht auf die Verwendung des Begriffs „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ oder SRGR. Dies war kein Zufall. Die Mitgliedstaaten wollten den Begriff „sexuelle Rechte“, der in der ausgeschlossenen Formulierung enthalten ist, nicht validieren. Man kann vermuten, dass der Hauptgrund für diesen Ausschluss darin liegt, dass der Begriff „sexuelle Rechte“ ein positives normatives Urteil über sexuelle Handlungen enthält, die nicht „reproduktiv“ sind, wie z. B. sexuelle Handlungen zwischen Personen des gleichen Geschlechts oder sogar gelegentliche sexuelle Handlungen außerhalb der Ehe, bei denen nicht einmal die Möglichkeit der Fortpflanzung in Betracht gezogen wird. Laut den brasilianischen Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen Sonia Corrêa und Maria Betânia Ávila wurde die Formulierung „sexuelle Rechte“ in Kairo „als Teil einer Verhandlungsstrategie“ vorgeschlagen, um die Annahme der „reproduktiven Rechte“ zu gewährleisten. In Peking wurde der Begriff erneut vorgeschlagen, aber wieder abgelehnt, vor allem wegen seiner Herkunft aus dem Schwulen- und Lesbenaktivismus und seiner engen Verbindung zu diesem.“ (Hervorheb. Autors, übersetzt mit DeepL.com)
9:Bericht der vierten Weltfrauenkonferenz Peking; Punkt 96 (https://www.un.org/Depts/german/conf/beijing/anh_2_3.html#iv-c)
10: Positionspapier der DSW zu Sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte (SRGR); S. 4; https://www.dsw.org/wp-content/uploads/2019/10/SRGR_final_web.pdf
11: https://dserver.bundestag.de/btd/18/019/1801958.pdf; Hevorheb. durch den Autor; diese Definition ist nirgendwo bindend, so wie alle anderen Definitionen, sie ist lediglich ein Vorschlag wie SRGR im Sinne der UN Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 definiert werden könnte
12: https://www.un.org/development/desa/pd/sites/www.un.org.development.desa.pd/files/icpd_en.pdf; vgl 7.24 S. 50 von 197; Punkt 8.25 S. 62 von 197
Bilder: Junge_Hausaufgaben; Drei_Frauen; Arzt; Frau_Tüte; Braut_fliegt
Schreibe einen Kommentar