Habt ihr euch schon mal gefragt warum wir statt ‚Zuhörer‘, ‚Studenten‘, ‚Lehrer‘ oder ‚Leser‘ jetzt ‚Zuhörende‘, ‚Studierende‘, ‚Lehrende‘ oder ‚entbindende Person‚ sagen sollen? Ich mich auch. Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, bin ich zum Ursprung, zum ‚Unbehagen der Geschlechter‘ gegangen, denn nur eine kennt die Antwort auf fast alles was sich seit 1990 vergendert hat: Judith Butler, bitte leere mich.
Zusammenfassung: Gendersprache
Ich falle wieder gleich mit der Tür ins Haus: Gendersprache vertritt die Auffassung, dass der Mensch/mein Gegenüber erst durch die Sprechakte/ Sprechhandlung sichtbar und existent werde. Das kann sie aber eigentlich m.E. nur, weil sie davon ausgeht, dass es keinen Wesenskern des Menschen, keinen Täter hinter der Tat mehr gebe.1 Menschen existieren soweit ich das beurteilen kann aber schon bevor sie Da-Seins-Perfomierend handeln/sprechen können. Der Mensch ist wertvoll, von Anfang an. Er IST es. Diese substantielle Würde wohnt ihm aufgrund seines Mensch-Seins inne. Ohne eigene (vor)Leistung und ohne, dass er erst von Irgendjemand ‚beschrieben‘ werden müsste!2
Gendersprache drängt auf ihre Verwendung, weil sie dabei helfe alle Menschen individuell sichtbar zu machen. Vorher hat die Butlersche Gendertheorie aber die Kugel unseres Wesenskerns aus dem Becher, der sich Körper nennt, mit einem feinen Kniff, einfach raus fallen lassen. Die „kein Täter hinter der Tat“-Auffassung nimmt theoretisch allen Menschen diesen Wesenskern (und ihre Substanz). Aber erst dadurch werden sie in Butlers Theorie unsichtbar. Das wäre so als würde ein Versicherungsvertreter erst dein Auto in die Luft jagen, um dir dann seine Visitenkarte in die Hand zu drücken: ‚Sieht so aus als könntest Du gerade eine Versicherung gebrauchen, ruf mich einfach mal an.‘
Wem es noch nicht die Sprache verschlagen hat, der kann gern weiterlesen. Vorsicht: Jetzt kommt wieder der endlos lange Teil mit den schwer verständlichen und verschachtelten Zitaten.
(den Kniff enthüllt?)
Der sog. Kniff funktioniert meiner Ansicht nach nur weil die Gender-Theorie den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes (wie ein Oberteil) auf links dreht.3 Das Innere wird nach Außen gestülpt und das Äußere nach Innen. Das was dem Menschen innerlich und jedem Menschen einzigartig ist, würde ich mit dem der Begriff ‚Person‘ definieren. (Auf unserem Blog haben wir uns damit schon des Öfteren beschäftigt, siehe dazu Fußnote 4.) Die ‚Person‘ würde durch diese Theorie ‚raus‘ – also nach ‚Außen‘ – fallen. Das Geschlecht fällt ‚rein‘ – also nach ‚Innen‘. Und genau hier entsteht der Konflikt:
„In Paradigm, einem frühen Essay, legt [Monique Wittig] dar, daß der Sturz des Systems der Geschlechterbinarität ein kulturelles Feld vielzähliger Geschlechter eröffnen könnte. In dieser Abhandlung nimmt sie Bezug auf den Anti-Ödipus: ‚Für uns gibt es nicht ein oder zwei, sondern viele Geschlechter, so viele Geschlechter wie Individuen.‘ Die schrankenlose Vervielfältigung der Geschlechter führt mit logischer Notwendigkeit zur Negierung des Geschlechts als solchem. Wenn die Anzahl der Geschlechter die Zahl der existierenden Individuen entspricht, läßt sich die Kategorie ‚Geschlecht‘ nicht mehr als allgemeiner Terminus anwenden: Das Geschlecht eines Individuums wäre eine radikal einzigartige Eigenschaft, die nicht mehr als sinnvolle, deskriptive Verallgemeinerung fungieren könnte.“5
Worin besteht der Kniff? Dadurch, dass der Wesenskern bzw. unsere Seelen hinaus gedreht werden, dreht sich das Geschlecht nach Innen. Indem ‚das Geschlecht‘ aber nach Innen wandert, wird die ‚Kategorie Geschlecht‘ im Grunde genommen zum Inhalt dessen, was wir bisher unter dem Personenbegriff verstanden haben. Wir definieren uns nun aber nicht mehr über unsere ‚Person‘ sondern über unser Geschlecht. Dabei gilt, dass es Geschlecht als solches, so wie wir es bisher (biologisch) kannten, nicht mehr gibt. Wie jeder Mensch eine einzigartige Person ist/war, so wird/ist er nach Butlers Theorie jetzt ein einzigartiges Geschlecht.
Die Krux ist dabei nur, dass der Personenbegriff raus fliegen soll, und Geschlecht überhaupt keinen Anhaltspunkt mehr hat. Der Personenbegriff wird m.E. durch die Abschaffung der Substanz entkernt, und mit Geschlecht gefüllt. Es gibt überhaupt keinen Ursprungspunkt unserer Existenz und kein Ziel. Früher hat man sich noch zu seinem Geschlecht verhalten. Da war das Geschlecht eine Gabe und gleichzeitig verbunden mit bestimmten Aufgaben. Heute wäre jedoch laut Butlers Theorie alles zur Kultur erklärt, was wir bisher unter Natur verstanden haben. Ich kann mir nicht ausmalen, welche Konsequenzen das haben kann. Wo bleibt der Naturschutz?
Vor-Wort
Jetzt geht’s gleich richtig los. Eins jedoch vorab: Ich würde euch empfehlen, falls ihr das nicht schon habt, die beiden vorherigen Beiträge zu lesen.6 Die kurzen Einleitungen würden jeweils schon reichen. Darin habe ich versucht zu erklären, dass in ‚Das Unbehagen der Geschlechter‚ u.a. das Gesetz zur Sprache kommt, welches „die Möglichkeit sinnvoller Sprache“7 schafft, so Butler. Wie wir in ‚Also sprach Judith Butler: das Gesetz‚ gesehen haben, ging sie davon aus, dass das Gesetz seine eigene Ursprungs- bzw. Entstehungsgeschichte erfunden habe, um sich zu legitimieren.
„Allerdings“, so Butler, „geschieht diese Erzählung in einer Sprache, die im strengen Sinne später als das Gesetz bzw. die Konsequenz des Gesetzes ist und somit stets von einem verspäteten nachträglichen Zeitpunkt ausgeht. Wird also die Sprache durch das Gesetz strukturiert und das Gesetz seinerseits durch die Sprache veranschaulicht […], so kann die Beschreibung oder Erzählung nicht wissen, was außerhalb ihrer – d.h. vor dem Gesetz – liegt.“8
Gesetz strukturiere Sprache, sagt Butler. Das erst mache eine sinnvolle Sprache möglich. Die Sprache wiederum, ließe das Gesetz deutlich werden. Butler folgt hier dem Ansatz, dass wir ohne Sprache Sachverhalte nicht denken können. Weil uns die Worte fehlen würden, könnten wir nichts benennen. Wir bräuchten also erst Worte/Sprache, die die Dinge für uns (gedanklich) greifbar mache. Alles was uns durch Worte in der Sprache zur Verfügung stehe, könnten wir begreifen und denken. Alles was außerhalb der sprachlichen Grenzen liege, wäre in dem Sinne für uns unmöglich zu denken. Soweit so logisch.
Butler nennt das in ihrem Werk die Schranken der Diskursanalyse9 und erklärt es wie folgt: „Die Schranken der Diskursanalyse der Geschlechtsidentität implizieren und legen von vornherein die Möglichkeiten der vorstellbaren und realisierbaren Konfigurationen der Geschlechtsidentität in der Kultur fest. Das bedeutet nicht, daß in Sachen Geschlechtsidentität prinzipiell alle und jede Möglichkeiten offenstehen, sondern daß die Schranken der Analyse auf die Grenzen einer diskursiv [einer methodisch und logisch geschlussfolgerten] bedingten Erfahrung verweisen. Diese Grenzen wurden stets nach Maßgabe eines hegemonialen [vorherrschenden] kulturellen Diskurses festgelegt, der auf binäre Strukturen gegründet ist, die als Sprache der universellen, allgemeingültigen Vernunft erscheinen. Somit ist die zwanghafte Einschränkung gleichsam in das eingebaut, was von der Sprache als Vorstellungshorizont möglicher Geschlechtsidentität festgelegt wird.“10
Was sie hier sagen will, ist, dass wir außerhalb der ‚binären Strukturen‘ (Mann/ männlich und Frau/ weiblich) nicht denken können, weil unser sprachlicher Vorstellungshorizont uns einschränkt. Butler sieht binäre Strukturen als zwanghafte Einschränkung und kritisiert, dass diese Strukturen nur deshalb als universell, allgemeingültig und vernünftig erscheinen, weil es von einer vorherrschenden, institutionalisierten, gesellschaftlichen Redeweise, die das Handeln der Menschen bestimmt (dem Diskurs), so festgelegt wurde. Macht Sinn?
Dieser Logik folgend, würde dein aktuelles Unverständnis über Judith Butlers Sichtweise sich darin begründen, dass du von dem vorherrschenden Diskurs, der die binäre Struktur vorschreibt, manipuliert worden bist. Könnte ja sein, oder? Du kannst ja eigentlich gar nicht außerhalb der Schranken denken. Das Gesetz hat dich womöglich schon zu sehr infiltriert…
Zwischenfazit:
Butler will den (vermeintlich) einschränkenden Vorstellungshorizont unserer Sprache erweitern. Eigentlich will sie ihn sprengen. Und ohne es zu polemisieren, sondern mit Nietzsche gesprochen, sucht sie im Grunde nach dem Schwamm, mit dem man den ganzen (sprachlichen Vorstellungs)Horizont wegwischen könnte.11 Oder etwas verschachtelter würde Butler formulieren, dass die Geschlechtsidentität „ein neues Vokabular verlangt, das Partizipien unterschiedlichster Art und resignifizierbare, erweiterbare Kategorien instituiert und verbreitet, die sowohl die Binarität als auch den substantivierenden grammatischen Einschränkungen der Geschlechtsidentität widerstehen.“12
Die Entgrammatikalisierung der Sprache
Um sich die Möglichkeit einer horizonterweiternden Sprache zu erschließen, bedient sich Butler bei den Gedanken von keinem Geringeren als Friedrich Wilhelm Nietzsche. (Scheinbar fand sie seine Philosophie sehr faszinierend. Mal schauen, vielleicht kommt euch gleich das ein oder andere bekannt vor.) Butler zitiert dabei Michel Haar, der in ‚Nietzsche and Metaphysical Language‚, die Ergüsse des großen Philosophen wie folgt extrahierte:
„Alle psychologischen Kategorien (das Ich, das Individuum, die Person) leiten sich von der Illusion der substantiellen Identität ab. Diese Illusion geht grundlegend auf einen Aberglauben zurück, der nicht nur den gesunden Menschenverstand (common sense), sondern auch die Philosophen täuscht: Dies ist der Glaube an die Sprache und genauer formuliert: an die Wahrheit der grammatischen Kategorien. Es war die Grammatik (die Subjekt-Prädikat-Stuktur), die Descartes‘ Gewißheit inspirierte, daß das ‚Ich‘ das Subjekt des ‚Denkens‘ ist, während doch eigentlich eher umgekehrt die Gedanken zur ‚mir‘ kommen.“13
(Ich will an der Stelle auch nur kurz auf René Descartes verweisen.14 Nietzsche verwirft den cartesianischer Dualismus vom René, in dem er sagt dass er Leib ganz und gar sei: „‚Leib bin ich und Seele‘ – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe.“15)
Nur um eins klarzustellen: Ich habe diesmal die Glaubensdiskussion nicht angefangen. Aber der Glaube an die Wahrheit der grammatischen Sprachkategorien soll ein Aberglaube sein? Puh. Vielleicht gleicht die Gender-Theorie doch eher einer Religion, die uns von dem ‚Aberglauben‘ an die Illusion einer substantiellen Identität befreien will?
Und wie wir gestern gelesen haben ist Butler der Meinung: Yes, we can!
Soviel also zum geistigen Vorbild. Jetzt philosophiert Butler scheinbar endgültig mit dem Hammer16 und schickt sich anscheinend zur Entgrammatikalisierung an. Um das zu verstehen, brauchen wir jedoch unbedingt die Erläuterungen aus dem Beitrag ‚Also sprach Judith Butler: Es werde Nichts‚. Denn jetzt geht es sprich- und wortwörtlich an die Substanz. Oder anders formuliert: Nun kommt das Substantiv unter den Hammer:
Butler konstatiert vorm Hammerschlag aber erstmal den bisherigen Stand der Dinge und schreibt, dass „[w]enn es möglich ist, einem ‚Mann‘ ein männliches Attribut zuzusprechen […], dann können wir einem ‚Mann‘ auch ein weibliches Attribut – was immer das sein mag – zusprechen und dennoch dabei die Integrität der Geschlechtsidentität aufrechterhalten.“17 Mann bliebe in dem Fall Mann, egal was man über ihn sagen würde oder was er von sich selbst behauptete. Salopp formuliert bliebe der Penis zwischen seinen Beinen hängen. Aber, liebe Freunde des guten Geschmacks, wir müssen euch enttäuschen. Denn das war der alte festgelegte Vorstellungshorizont der Sprache. Jetzt kommt der Schwamm.18 Wisch und weg.
„Sobald wir jedoch die Priorität von ‚Mann‘ und ‚Frau‘ als bleibende, unvergängliche Substanzen aufkündigen, lassen
sich die unvereinbaren Geschlechtsmerkmale [hier nimmt Butler vor allem Bezug auf Foucault’s Erzählung von Herculine Barbin] nicht mehr als sekundäre und akzidentielle [unwesentliche] Charakteristika einer im Grunde intakten Geschlechter-Ontologie (gender ontology) unterordnen. Erweist sich die Vorstellung von der unvergänglichen Substanz als fiktive Konstruktion, die durch die zwanghafte Anordnung von Attributen in kohärenten Reihen erzeugt wird, so sieht sich die Geschlechtsidentität als Substanz bzw. die ‚Lebensfähigkeit‘ von Mann und Frau als Substantive durch das unvereinbare Spiel der Adjektive, die nicht mehr sequentiellen oder kausalen Intelligibilitätsmodellen entsprechen, in Frage gestellt.„19
Mit ‚Substanz‘ mein Butler in gewisser Weise auch ein Ideal, nachdem wir uns laut dem Gesetz alle zu richten hätten. Wenn es aber keine Substanz mehr gebe, die man mit Adjektiven oder Attributen beschreiben würde, dann schwirren die Adjektive und Attribute einfach im leeren Raum herum. Damit befänden sich Substantive, wie es ‚Mann‘ und ‚Frau‘ grammatikalisch wären, im Auflösungsprozess. Wisch und weg.
Anders formuliert: Da die Metaphysik der Substanz, der inneren Kern unseres Da-‚Seins‘, mit Butlers Hilfe gestern vor den philosophischen Bus geschmissen worden wäre, können jetzt z.B. „Lachen, Glück, Lust und Begehren“ zu „Qualitäten ohne bleibende Substanz„20 werden. Qualitäten, die eigentlich dem alten (substantivistischen) Vorstellungshorizont anhaften sollten. Aber: „Als freischwebende Attribute verweisen diese Qualitäten [gem. sind u.a. Lachen, Glück, Lust und Begehren] auf die Möglichkeit einer geschlechtlich bestimmten Erfahrung (gendered experience), die sich nicht durch die substantivierende und hierarchisierende Grammatik der Substantive (res extensa) und Adjetive (wesentlich und akzidentielle Attribute) erfassen läßt.„21 Ihr versteht so langsam worauf das hinaus läuft?
Wenn es keine Substanz mehr, kein (vor)gegebenes Mann- bzw. Frau-Sein, gibt, dann „wird das Phänomen einer unvergänglichen Substanz oder eines geschlechtlich bestimmten Selbst […] durch die Regulierung der Attribute erzeugt„.22 Dann würde ein Mann, dem wir „ein weibliches Attribut – was immer das sein mag – zusprechen“23, im Grunde zu einer Frau. Es fehlt an der Stelle der Anker bzw. die wortwörtliche Substanz.
Das geschlechtlich bestimmte Selbst würde jetzt gewissermaßen von Außen auf den Körper nach Innen projiziert (oder ‚auf links gedreht‘ (siehe oben)). „Die Enthüllung dieser Scheinproduktion wird durch das entregelte [ich würde sagen ‚durch das entgrammatikalisierte‘] Spiel, der Attribute bedingt, die sich der Einpassung in den fertigen Rahmen von primären Substantiven und sekundären Adjektiven widersetzen. Man kann natürlich sagen, daß die unvereinbaren Adjektive rückwirkend eine Redefinition der substantiellen Identitäten, die sie angeblich modifizieren, bewirken und damit die substantivistischen Kategorien der Geschlechtsidentität so erweitern, daß sie nun Möglichkeiten einschließen, die sie vorher ausgeschlossen hatten. Doch wenn diese Substanzen nichts anderes als die Kohärenzen [logischen Zusammenhänge und Nachvollziehbarkeiten] sind, die in kontingenter [zufälliger oder beliebiger] Form durch die Regulierung der Attribute erzeugt werden, dann erweist sich die Ontologie [die Lehre vom Sein, vom Seienden] der Substanzen selbst möglicherweise nicht nur als künstlicher Effekt, sondern im Grunde als überflüssig.„24
Butler zögert scheinbar an der Stelle kurz: Ja, diese Beschreibungen, diese Attribute, könnten vielleicht doch so etwas wie eine Substanz bzw. einen Inneren Kern erschaffen. Quasi so, dass die Attribute und Adjektive (für den Moment) stützend von Außen eine Hülle formen würden. Aber wenn dieser innere Kern nichts anderes als eine (vermeintlich) sinnvolle Abfolge, ein Effekt von beschreibenden Attributen sei, dann ist die Substanz (der innere Kern unseres Wesen) nicht nur künstlich hergestellt, sondern eigentlich überflüssig. Wisch und weg.
„In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität (gender) weder ein Substantiv noch eine Sammlung freischwebender Attribute. Denn wie wir gesehen haben, wird der substantivistische Effekt der Geschlechtsidentität durch die Regulierungsverfahren der Geschlechter Kohärenz (gender coherence) [logischen Zusammenhänge und Nachvollziehbarkeiten der Geschlechter] performativ hervorgebracht und erzwungen. Innerhalb des überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität als performativ, d.h., sie selbst konstituiert die Identität, die sie angeblich ist.„25
Leistungskontrolle
Versteht ihr jetzt warum es genderneutral „Studierende“, „Lehrende“ oder „Zuhörende“ heißen soll? Hier wird die Tat ohne Täter beschrieben. Die Attribute ohne Substantiv: Also sprach vielleicht Judith Butler: Die Substanz und das Substantiv sind tot. Der ‚Täter hinter der Tat‘ bleibt tot. Müssen wir nicht selber Performativ tätig werden, um nur würdig zu erscheinen?26 Und wer ein Schöpfer sein muß seines eigenen Da-Seins, der muß ein Vernichter erst sein und die Zwangsheterosexualität zerbrechen. Und mag doch alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen kann! Manche Geschlechtsidentität gibt es noch zu erfinden.27
Wenn aber alles zerbrochen ist…
Wenn alles zerbrochen ist, gibt es Scherben. Vor allem wenn der substantielle Zusammenhang von Lust und Fortpflanzung, der sich in der menschlichen Sexualität vereint hatte, subvertiert wurde. Butler lehnt die Fortpflanzung als einen vom Gesetz aufdiktierten Zwang ab. Sie sagt es nicht, aber vielleicht befürchtet sie in der Fortpflanzung die Verdinglichung des Menschen…
Butler aber betont vielmehr die Lust. Wenn Sexualität jedoch nur noch Lust ist, und die Möglichkeit zur Fortpflanzung ihr keine Richtung mehr gibt, dann wird die Lust Uferlos. Dann gibt es keine logische Erklärung mehr warum bestimmte Formen von Sex und dessen Praktiken verboten sein sollten. Denn erlaubt ist dann alles was Lust bereitet. ‚Liebe wen du willst.‘ Wenn alle die am Sex teilnehmen, zustimmen, gibt es keine Grenzen mehr. Dann ist auch der Körper mit oder ohne den ich Sex habe, völlig egal.
Schlussgedanke(n)
Ich habe es eingangs flapsiger Weise einen philosophischen Kniff genannt, mit dem Butler unseren inneren Kern, unsere Substanz und Identität, hat verschwinden lassen. Damit kreiert Butler ein grammatikalisches Vakuum. Die Substanz bzw. das Substantiv gibt es in ihrer Welt eigentlich nicht mehr. Substantive waren, so hatte man es mir damals immer wieder eingebläut, Dinge, die man groß schreibt weil man sie u.a. anfassen kann. Aber, wie ich Butler auch schon zitiert habe, gibt es keinen Täter mehr, den man anfassen bzw. dem man habhaft werden kann.
‚Performiert euch‘ ist im Grunde ihr großer (von mir umschriebener) Aufschrei. Sei der du wirst. Unsere Taten werden zu beschreibenden Attributen. Mann oder Frau könnte nun jemand sein, der von diesen oder jenen Attributen aus- bzw. erfüllt. Aber das kann sich alles von Tag zu Tag ändern: Heute lösche ich heroisch Feuer, morgen kümmer ich mich um die Kinder und koche. Wer oder Was ich bin scheint kein Rätsel der Spinx mehr zu sein.28 Denn eine sich festlegende Antwort wird es in der Gender-Theorie nie geben.
Um zu existieren müsste ich, laut Butler, performen. Salopp gefragt: Müsste ich erst eine bestimmte Leistung erbringen, um ein mich beschreibendes Attribut (für eine gewisse Zeit) mein eigen nennen zu dürfen? Performe ich nicht, verschwinde ich dann? Gehe ich aber davon aus, dass es mich vor jeder Handlung schon gibt, dass ich ohne (Vor)Leistung schon einen Wert, eine Substanz, habe, dann bin ich scheinbar ‚der Typ von gestern‘ und unterliege dem ‚zwangsheterosexuellen Gesetz‘? Aber schon das wäre ja wiederum auch eine Art Handlung, die mir ein mich beschreibendes Attribut einbringen würde: ‚patriarchales Arschloch‘ nämlich. Vielleicht hat Butler ja doch Recht?
Dann stünde aber die Frage im Raum was mich zum Menschen macht. Meine Attribute heischende Performanz oder meine Würde, die ich schon allein deswegen habe, weil ich ein Mensch bin? Wann habe ich genug Attribute für den Status Mensch? Wann sind’s zu wenig? Wer oder was gibt mir (m)eine Sicherheit, (m)eine Garantie, (m)einen Halt?
Vielleicht ist alles auch ganz anders. Morgen mehr.
Quellen: zuletzt aufgerufen am 29.03.2023:
1: Siehe: Also sprach Judith Butler: Es werde Nichts!; Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 48 bzw. 209.
2: Siehe dazu die Beiträge unter: https://youngandfree-kaleb.de/stichwort/wann-beginnt-das-leben/.
3: Siehe ‚Also sprach Judith Butler: das Unbehagen der Geschlechter‘ – Überschrift: Foucault.)
4: Siehe dazu die Beiträge unter: https://youngandfree-kaleb.de/stichwort/person/.
5: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 176: Das Zitat von Monique Wittig zitiert nach Butler, ‚Paradigm‘ in Feminist Issues, Band 1, Nr. 1 Sommer 1980, S. 119).
6: Siehe ‚Also sprach Judith Butler: das Gesetz‘ ( und ‚Also sprach Judith Butler: es werde Nichts‘ .
7: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 123, Hervorheb. d. Autors.
8: ebd., S. 116, Hervorheb. d. Autors.
9: Diskursanalyse: „Mit einer Diskursanalyse findest du heraus, wie die Gesellschaft über ein bestimmtes Thema, z. B. Bildung, spricht und wie das zur kollektiven Meinungsbildung beiträgt.Der Begriff Diskursanalyse wurde von dem Philosophen Michel Foucault geprägt, der davon ausging, dass die Bedeutung, die wir gewissen Dingen zuschreiben, unser Handeln bestimmt. Das Ziel einer Diskursanalyse ist es, mehrere Texte eines Themenbereichs auf Hinweise zu einem speziellen Diskurs zu untersuchen.“ (https://www.scribbr.de/methodik/diskursanalyse/)
10: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 27, Hervorheb. d. Autors.
11: Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, 7. Auflage, Stuttgart, Kröner Verlag, 1986, Drittes Buch – 125, S. 140-141: „‚Wohin ist Gott? rief er, ich will es euch sagen! Wir haben ihn getödtet,—ihr und ich! Wir Alle sind seine Mörder! Aber wie haben wir diess gemacht? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen? Was taten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun? Wohin bewegen wir uns? Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwährend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten? Giebt es noch ein Oben und ein Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht? Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung?—auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet,—wer wischt diess Blut von uns ab? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser Tat zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen? Es gab nie eine grössere Tat,—und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser Tat willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!'“ Hervorheb. d. Autors.
12: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 167, Hervorheb. d. Autors.
13: Haar zitiert nach Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 43, Hervorheb. d. Autors.
14: Siehe https://youngandfree-kaleb.de/ich-denke-also-bin-ich-rene-descartes/: „Descartes baute [mit seiner Theorie] in gewisser Weise ein Haus, mit zwei Stockwerken. „In der oberen Etage platzierte Descartes den menschlichen Geist, das Reich des Denkens, der Wahrnehmung, des Bewusstseins, des Gefühls und des Willens. In seinen Worten ausgedrückt
ist der Verstand eine ‚mit dieser Maschine vereinte rationale Seele‘. Der kartesische Dualismus wurde etwas respektlos ‚der Geist in der Maschine‘ genannt.“ (Pearcey, 2018, S. 72) Mit seinem Satz „Ich denke, also bin ich“ [Cogito ergo sum] verortet er die eigentliche menschliche Identität im Kopf. Also allein in unserem Denken. Nur unsere Fähigkeit zu denken mache uns zu existieren/seienden Menschen.“ Butler greift Descartes „Cogito ergo Sum“ nochmals auf S. 210 auf bzw. an.
15: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Nikol Verlag, 11. Auflage, 2022, S. 30, Hervorheb. d. Autors. „‚Leib bin ich und Seele‘ – so redet das Kind. Und warum sollte man nicht wie die Kinder reden? Aber der Erwachte, der Wissende sagt: Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft. ‚Ich‘ sagst du und bist stolz auf diess Wort. Aber das Grössere ist, woran du nicht glauben willst, – dein Leib und seine grosse Vernunft: die sagt nicht Ich, aber thut Ich.“ (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Nikol Verlag, 11. Auflage, 2022, S. 30; bzw. https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0517-03.pdf).
16: Vgl. Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt, Von Friedrich Nietzsche, Leipzig, Verlag von C. G. Neumann, 1889, http://www.nietzschesource.org/#eKGWB/GD, https://de.wikipedia.org/wiki/G%C3%B6tzen-D%C3%A4mmerung_oder_Wie_man_mit_dem_Hammer_philosophirt
17: Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 48.
18: Siehe Fussnote 10
19:Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Erste Auflage 1991, 22. Auflage 2021, Suhrkamp, S. 48, Hervorheb. und Anmerk. d. Autors.
20: ebd., Hervoheb. d. Autors.
21. ebd., Hervorheb. d. Autors.
22: ebd., Hervorheb. d. Autors.
23: ebd.
24: ebd., S. 48f. Hervorheb. und Anmerk. d. Autors.
25: ebd. S. 48, Hervorheb. und Anmerk. d. Autors.
26: vgl. dazu Nietzsches Text in Fussnote 10.
27: Vgl.: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Nikol Verlag, 11. Auflage, 2022, S. 112f.; bzw. https://www.lernhelfer.de/sites/default/files/lexicon/pdf/BWS-DEU2-0517-03.pdf): „Und wer ein Schöpfer sein muß im Guten und Bösen: wahrlich, der muß ein Vernichter erst sein und Werte zerbrechen. […] Und mag doch alles zerbrechen, was an unseren Wahrheiten zerbrechen – kann! Manches Haus gibt es noch zu bauen! – Also sprach Zarathustra.“
28: https://www.freud-zentrum.ch/das-raetsel-der-sphinx/ : „In der Ödipus-Sage der griechischen Mythologie belagerte die Sphinx die Stadt Theben und gab den vorüberkommenden Thebanern Rätsel auf. Wer falsch antwortete, wurde gefressen. Einzig Ödipus konnte ihr entkommen.“ Wer heute die Rätsel, die einem die Gender Theorie aufgibt, nicht zufriedenstellend beantworten kann, wird medial gefressen.
Bildnachweise: Mann trinkt Kaffe und lies: https://unsplash.com/photos/nKEARsgmrqc?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Hut und Sonnenbrille: https://unsplash.com/photos/wKAFIL6qdP4?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Mann denkt nach: https://unsplash.com/photos/iR3dtvKmwAw?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Buchstabenplatten: https://unsplash.com/photos/BVyNlchWqzs?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Gesicht hinter Knisterfolie: https://unsplash.com/photos/4OYhKLTH__I?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Hammer: https://unsplash.com/photos/XZuqMUiSdgc?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Menschen Horizont: https://unsplash.com/photos/2tSL_9SRgFc?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink
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