Die emeritierte MIT-Professorin Judith Jarvis Thomson hat im
Zusammenhang mit der Frauenbewegung in den 70ern ein Szenario entwickelt,
mit dessen Hilfe man bestreiten kann, dass Abtreibungen per se unmoralisch bzw. falsch seien.
Bereit? Here we go…
„Eines Morgens wachst Du auf und findest Dich in einem Krankenhausbett wieder,
direkt neben Dir liegt ein berühmter, bewusstloser Geiger. Man hat herausgefunden,
dass er an einer tödlichen Nierenkrankheit leidet. Der Verein der Musikliebhaber hat
alle zugänglichen medizinischen Unterlagen geprüft und festgestellt,
dass nur Du den richtigen Bluttyp hast.
Also haben sie Dich gekidnappt, und letzte Nacht wurde der Blutkreislauf
des Geigers an deinen angeschlossen, sodass deine Nieren Schadstoffe
aus seinem Blut filtern können genau wie aus deinem. Der Chef der Klinik sagt Dir:
‚Schauen Sie, es tut mir leid, dass der Verein der Musikliebhaber Ihnen das angetan hat:
Hätten wir davon gewusst, hätten wir das nie erlaubt. Aber sie haben es nun einmal getan,
und […] den Geiger jetzt von Ihnen abzukoppeln hieße ihn zu töten. Aber seien
Sie unbesorgt, das ist ja nur für 9 Monate. Danach wird er sich von seiner Krankheit
erholt haben und kann ohne Schaden von Ihnen abgekoppelt werden.‘
Ist es moralisch geboten, in diese Umstände einzuwilligen?
Es besteht keinerlei Zweifel daran, dass das von deiner Seite aus sehr entgegenkommend wäre,
ja eine ausgesprochene Großzügigkeit. Aber bist Du dazu verpflichtet? Was, wenn es
sich hierbei nicht bloß um neun Monate, sondern um neun Jahre handelte?
Oder sogar noch länger?
Was wäre beispielsweise, wenn der Chef der Klinik nun sagte:
‚Es sind unglückliche Umstände, das gebe ich zu, aber nun muss der Geiger leider
für den Rest Ihres Lebens an Sie angeschlossen bleiben. Denn alle Menschen haben,
wie Sie sich erinnern werden, ein Recht auf Leben. Zwar haben Sie freilich ein Recht
selbst zu bestimmen, was in und mit Ihrem Körper geschieht, doch überwiegt das
Recht einer anderen Person auf Leben Ihr Recht auf körperliche Selbstbestimmung.
Daher dürfen Sie nicht mehr von ihm entkoppelt werden.‘
Ich denke, dass Du das als
unverschämt und ungeheuerlich empfinden würden, was darauf hinweist,
dass mit dem scheinbar plausiblen Argument, das ich nur einen Moment
zuvor vorgebracht habe, etwas nicht in Ordnung ist.“
(Thomson: A Defense of Abortion, S. 48
bzw. auf deutsch hier und als Videoanimation hier)
Zumindest haben wir dieses Mal mehr Zeit und kein loderndes Feuer im Nacken.
Zumindest müssen wir hier nicht disktuieren ob der Embryo ein Mensch und eine Person ist.
Zumindest müssen wir hier nicht über die Gleichwertigkeit von Menschen reden.
Deswegen, selbst wenn der Geiger und Ich gleichwertig und
wir beide Menschen/Personen sind, hat er doch kein Recht
meinen Körper ohne meine Einwilligung zu nutzen.
Anscheinend geht es hier um das Thema
Selbstbestimmung und dagegen kann keiner…
…Wart mal kurz:
—– Denkprozess beginnt: Bitte warten —–
„Thompson vergleicht hier nicht etwa Schwangerschaft per se mit einer Krankheit, oder?
Tut sie? Krass. Es gibt Paare, die, in dem Bild gesprochen, seit Jahren ungewollt gesund sind
und sich sehnlichst diese ‚Krankheit‘ bzw. einen ‚kranken Geiger‘ wünschen?
-Puh. Die Schmerzmittel, die sie mir geben, knallen ganz schön rein.-
Ich liege also im Bett, angeschlossen an diesen Geiger. Unfreiwillig. Ohne Zustimmung.
Und jetzt soll diese Situation verdeutlichen, dass Frauen dem Sex zustimmen können,
ohne einer Schwangerschaft zuzustimmen. Ernsthaft?
Es ist definitiv unmöglich, dass in unserer aufgeklärten Gesellschaft
eine Philosophin und ihre Fans, nicht wissen, dass ein Baby durch Sex ensteht.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass keiner weiß, dass es keine 100% sichere
Verhütungsmethode gibt. Außer man hat keinen Sex. Aber so unaufgeklärt
und rückständig kann doch heute keiner mehr sein. Oder?
Meint sie wirklich Sex von allen Konsequenzen gelöst haben zu können?
Aber mal angenommen jemand würde so denken. Wäre das
dann nicht so, wie wenn ich einwilligen würde Fußball zu spielen,
ohne einzuwilligen, dass der Ball durch das Fenster des Nachbarn fliegt und es zerstört?
Es wäre doch dann OK, dem Nachbarn zu sagen: ‚Ich hatte zwar Bock auf das Spiel, aber nicht
auf die Beschädigung ihres Fensters, also werde ich es nicht reparieren‘? Wäre es dann nicht
auch in Ordnung für einen Mann zu sagen, dass er zwar zugestimmt hat, Sex zu haben, aber nicht
Unterhalt für das Kind zu zahlen? Wäre es vernünftig, einem Richter zu sagen: ‚Ich habe dem
Sex zugestimmt, aber nicht der Zeugung des Kindes, das meine Partnerin geboren hat,
also werde ich keinen laufenden finanziellen Unterhalt für das Kind zahlen‘?
In beiden Fällen sind die Folgen eines zerbrochenen Fensters oder eines Kindes,
das Unterhalt braucht, doch genau das – Folgen. Also Ergebnisse, die sich aus einer Handlung ergeben.
Man kann solchen Konsequenzen nicht ‚zustimmen‚; man muss sie lediglich akzeptieren.
Wenn man sich auf Handlungen einlässt (Fußball spielen, Sex haben), die mit Konsequenzen
verbunden sind, muss eine Person akzeptieren, was kommt. Wenn das für die Szenarien der
zerbrochenen Fensterscheibe oder des Kindesunterhalts gilt, dann gilt das doch eigentlich
auch für das Szenario einer Schwangerschaft.
Außerdem: Geht es bei einer Schwangerschaft nicht um die sich aufbauende,
emotionale Beziehung von Mutter und Kind? Geht es hier nicht um Elternschaft?
Was hat dann der fremde Geiger hier zu suchen?
Thompson vergleicht also das Baby im Bauch einer Mutter mit einem Fremden (Geiger)?
Und wahrscheinlich ist der Embryo auch noch ein Parasit, der die Mutter von innen her auffrisst.
Alles klar. Ich bekomm den Gedanken nicht ganz zusammen, aber irgendwas war
mit dem Embryo, der seine Mutter beschenkt und heilt. Schenkt der Geiger
am Ende mir vielleicht ein paar Konzertkarten?
Aber, was wenn zum Beispiel in meiner Stadt jemand verhungert: Werde Ich dann wegen
Vernachlässigung angeklagt, weil Ich ihn nicht gefüttert habe? Wohl eher nicht.
Es wäre zwar nett von mir, den Armen etwas zu essen zu geben, aber ich bin rechtlich
nicht dazu verpflichtet, dies zu tun. Was ist, wenn mein Kind bei mir zu Hause verhungert:
Wird man Mich wegen Vernachlässigung anklagen, weil Ich es nicht gefüttert habe? Ja. Und warum?
Weil ich als Elternteil eine Verantwortung und Pflicht habe, die Grundbedürfnisse meiner Kinder zu erfüllen.
Tut mir leid, aber so gesehen ist der Geiger hier nicht mein Kind. Von Eltern geborener
Kinder zu verlangen, dass sie die Grundbedürfnisse ihrer Kinder nach
Nahrung, Kleidung und Unterkunft erfüllen, ist eigentlich dasselbe wie von einer Mutter
zu verlangen, dass sie die Grundbedürfnisse ihres ungeborenen Kindes
nach Nahrung und Unterkunft erfüllt. Wenn man weiß, dass das Leben am Anfang beginnt.
Apropos Unterkunft: Für wen ist die Gebärmutter eigentlich in erster Linie da?
Ich kann ohne eine Gebärmutter leben. Eine Frau kann das auch. Nur ihre Nachkommen noch nicht.
Tatsächlich bereitet sich die Gebärmutter jeden Monat auf den Körper einer anderen Frau oder Mann vor.
Während sie im Körper der Mutter existiert, ist sie ein einzigartiges Organ, da sie mehr für den Nachwuchs
als für sich selbst existiert. Mann könnte so gesehen ja fast schon sagen, dass das
ungeborene Kind ein Recht darauf hat, dort zu sein.
Hmm. Wenn ich mir das so Recht überlege. Es wäre wohl sehr großzügig von mir in Organspende einzuwillgen.
Blutspende ist auch sehr gut und hilfreich für andere. Und hier liegen zu bleiben wäre auch sehr nobel.
Stimmts Geiger?
Aber in diesen Fällen hat niemand ein Recht auf bspw. meine Organe und mein Blut.
Denn diese befinden sich doch in meinem Körper FÜR meinen Körper. Die Gebärmutter
hingegen hat eine andere Aufgabe und Bestimmung. Aber ich wiederhole mich.
Thompson setzt mit ihrem Szenario nicht etwa die außerordentlichen Sonderbedürfnisse
des Geigers wegen seiner Krankheit, mit den Grundbedürfnissen eines Embryos,
die er die ersten neun Monate hat, gleich? Tut sie?
Jemand, der sich in einem kritischen Extremzustand befindet,
in dem er extra Blut und/oder eine Organspende braucht, befindet
sich in einer Situation wo in seinem Körper etwas arg schief gelaufen/krank ist.
Aber jemand, der sich in den ersten paar Monaten seines Lebens befindet,
der für eine gewisse Zeit eine Gebärmutter braucht, in dessen Körper ist
alles in Ordnung und alles läuft nach Plan.
-Stecker ziehen oder liegen bleiben? Denk nach!-
Frau Thomson impliziert in ihrem Szenario, dass eine Schwangerschaft als eine
unmoralische Zumutung für die Frau gegen ihren Willen, auferlegt durch Biologie/Natur/Gott,
gesehen werden kann.
Auch wenn es eine Zumutung sein sollte, ist das Kind doch nicht derjenige,
der für diese Zumutung verantwortlich ist. Außerdem endet die ‚Zumutung‘, wie bereits erwähnt,
nicht mit der Geburt. Wenn also die Zumutung der ‚Natur‘ ein Grund ist, das unschuldige
ungeborene Kind abzutreiben, dann ist sie auch ein Grund, das unschuldige geborene Kind ‚abzutreiben‘.
–Puh, mir wird schwindelig. Scheint als hätte ich schon zu viel Blut in den Geiger gepumpt.–
Wenn ich jetzt also mir die Schläuche rausziehe, ‚treibe‘ ich den Geiger ‚ab‘?
Er hat ja aber auch nicht meine Zustimmung. Also kann ich ihm den Stecker ziehen?
Kann dann also eine Mutter ihrem Baby auch den (Nabel)Stecker ziehen, wenn sie ihm nicht zustimmte?
Entziehe ich dem Geiger aber nicht in erster Linie meine Hilfe/Unterstützung und als Konsequenz
stirbt er an den Folgen seiner Krankheit? Sind wir jetzt wieder bei Schwangerschaft = Krankheit?
Zieht eine Mutter ihrem Kind den ‚Stecker‘, dann stirbt es doch nicht an den Folgen
seiner Krankheit! Wie hieße denn dann die Krankheit des Kleinen Menschen?
Ungewolltes Leben?
War Abtreibung nicht das direkte und gewollte töten
eines unschuldigen Menschen? Wenn Abtreibung einfach der Entzug
von Hilfe/Unterstützung wäre, wäre das so, als würde man sagen, jemanden
mit einem Kissen zu ersticken ist einfach der Entzug von Sauerstoff.
Das wären dann die Konsequenzen meines Handelns.
Gewollt oder ungewollt. Zugestimmt oder nicht.
Kissen aufs Gesicht, also Sauerstoffentzug –> tötet.
Scheint so als wäre Selbstbestimmung nicht stabil genug,
um darauf unsere Ethik oder Entscheidungen zu gründen.
Scheint so als vergessen wir bei aller Szenariokonstruktion die Liebe.
Und wieder würde das Selbstbestimmungsrecht zum Tod führen.
Da wird dem armen Geiger wohl der Stecker gezogen.
—– Denkprozess beendet: Vielen Dank. —–
Frau Thompson? Meine Antwort:
Ich versteh die Frage nicht.
Natürlich geht es bei diesem Vergleich auch um Abtreibung und Vergewaltigung.
In so einem Fall haben Frauen niemals dem Sex zugestimmt. Und erwarten definitiv nicht die Schwangerschaft.
Das ist richtig. Aber über diese Situation möchten wir nicht in Form dieses Blogs nachdenken.
Das wird den Opfern nicht gerecht. Und Thompson sind wir das nicht schuldig.
Dazu ist auch die Geigerszenerie zu plump.
In diesem Falle geht es nicht mehr nur um Theorien.
Sondern echten Schmerz.
Vielleicht nur so viel:
Es gibt viele Berichte von Frauen, die ihr Kind trotzdem
bekommen haben u.a. hier, hier, hier, hier und hier.
Und es gibt die Möglichkeit hier 0800 / 36 999 63 bei VitaL
oder hier 0800 606767 bei ProFemina anzurufen.
Hier gibt’s noch ein Gedankenspiel.
Quellen
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Die Argumente stammen u.a. von hier und hier
Und von Stephanie Gray Connors Blog Loveunleasheslife.com
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