Beginnt das menschlich, schützenswerte Leben erst wenn es eine Autorität, in dem Falle der Staat durch ein Gesetz, sagt? Wissen wir ob und wodurch das ungeborene Leben einen Wert und Sinn hat bzw. ob es unantastbar ist, nur weil es ein Paragraph quasi definiert? Ist alles was wir biologisch, philosophisch, juristisch und theologisch über das menschliche Leben vor der Geburt sagen können nur eine Setzung, die man nicht begründen kann, so wie Jütte es in ‚Die Geschichte der Abtreibung‘ sagt?2 Was also ist der §218?
Uns treibt seit Jahren die Frage um, welchen Charakter bzw. Nutzen der §218 hat. Ist er vielleicht aus einer Art (patriarchaler) Herrenmoral (im Sinne Nietzsches) entsprungen? Haben Männer das Verbot des Schwangerschaftsabbruch nur eingeführt, um ihre Reproduktion gewährleisten zu können. Haben sie damit die Frauen unterworfen? Und ist es deswegen nicht schon längst überfälllig, die Frau im Sinne Engels aus dieser Unterdrückung zu befreien?3 Ältere4 und jüngst5 veröffentlichte Stimmen veranlassen uns jedoch dazu, diesen Gedanken zu hinterfragen: Für einen nicht geringen Prozentsatz von Frauen, die berichten, dass sie zu einem Schwangerschaftsabbruch von ihrem Partner gedrängt wurden, könnte der §218 sogar eine staatliche Macht und bzw. einen gesetzlichen Schutz und Rückhalt gegenüber dem übergriffigen Erzeuger bieten. Birgt der §218 vielleicht sogar doch etwas Gutes in sich? Würde die Befreiung vom 218er zwangsläufig zu mehr Gerechtigkeit führen? Max Horkheimer meinte noch, dass „Gerechtigkeit und Freiheit […] nun einmal dialektische Begriffe [sind]. Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit; je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit.6 Das wiederum macht uns stutzig. Wir wissen nicht wie es sich mit dem 218er verhalten würde. Wie seht ihr das? Es sind Fragen, die uns umtreiben.
Wenn wir uns in schlichter, laienhafter Weise mit der Geschichte dieses Paragraphen beschäftigen, dann sehen wir, dass es damals Ärzte und Juristen waren, die den 218er forderten, weil sie bemerkten, dass im allgemeinen Volk kein Bewusstsein für das vorhanden war, was die Forschung bis dato erstaunliches über den Embryo herausgefunden hatte. „Die Erkenntnis der medizinischen Forschung, daß der Embryo schon vom Zeitpunkt der Empfängnis an lebe, war allgemein anerkannt“7 schreibt Jütte. Heute schreiben z.B. Rohen und Lütjen-Drecoll „Sie [die Zygote] ist der Ursprung des neuen Individuums, in dem alles (potenziell) enthalten ist, was den späteren Organismus ausmacht. Es kommt nichts mehr hinzu. Die Zygote ist damit (funktionell) bereits das Ganze. Die weitere Entwicklung vollzieht sich damit immer vom Ganzen in die Teile und nicht durch Addition von Einzelteilen […]. Auch wenn sich an der Zygote noch nichts ‚Menschliches‘ (äußerlich) erkennen, lässt, ist das Ganze bereits (funktionell) präsent und zeigt schon in den ersten Entwicklungsschritten seine gewaltigen Potenzen.” 8Die Ärzte und Juristen von damals hofften scheinbar mit einem Gesetz ein Signal ins Bewusstsein der Bevölkerung senden zu können. Welches Signal wollen wir heute senden? Diese auf dem Prinzip der ‚Freiheit der Forschung‘9 gefundenen Fakten mündeten damals jedenfalls in den §218. (‚Natürlich‘ klärt dieser Gedankengang nur die biologischen Aspekte. Wiederum bliebe damit die Frage nach dem rechtlichen Personenstatus des Embryo eigentlich nur scheinbar unbeantwortet. Die Frage wann ein Embryo eine Person im rechtlichen Sinne sei, mit einem in Stufen wachsenden Lebensschutzkonzept klären zu wollen, lässt den Eindruck alter katholischer Sukzessivbesselungslehre10 wieder entstehen. Wird das Konzept einer Fristenlösung damit nicht lediglich um ein paar Monate verschoben? Hinzu käme an dieser Stelle die brennende Frage, wie es sich weiterhin mit der Dialektik von Individuum und Gesellschaft verhält? Bleiben die beiden dialektische Begriffe? Bleiben sie es auch wenn die Gesellschaft einen post conzeptiven Zeitpunkt festlegt, der besagt wann der Menschen persönlich wird?)
Max Horkheimer kritisierte in seinem Aufsatz ‚Autorität und Familie‘ (1936), dass diese ‚Freiheit der Forschung‘ zwar schön und gut sei, aber jene ‘sittlichen Wertschätzungen‘ (in der Bevölkerung) für diese Fakten können nur, und hier zitiert er Max Scheler, „auf Grund echter Autorität eingesehen werden“.11 Bräuchte es also die Autorität des Staates in Form eines Gesetzes, um uns den Wert des Lebens überhaupt erst ins Bewusstsein zu rufen? Hier stellt sich uns jedoch die Frage, ob es nicht Dinge in der Natur gibt, die wir nachforschend erkennen können und die uns regelrecht ein Gesetz abringen wollen. Dinge, die um ihrer natürlichen Schutzbedürftigkeit von uns einen gesetzlichen Rahmen brauchen, weil sie so natürlich sind, dass wir sie sonst für selbstverständlich oder gar unsichtbar halten würden?
Die von der Bundesregierung eingsetzte Kommission versucht nun zu klären welchen Charakter bzw. welchen Auftrag der §218 hat. Wir hoffen, dass sie dies auch vor dem Hintergrund der Abschlusserklärung der Weltbevölkerungskonferenz 1994 (Kairo), welche von insgesamt 179 Staaten einstimmig angenommen wurde, tun. Diese Abschlusserklärung beinhaltet neben den Definitionen von „sexueller und reproduktiver Gesundheit“ bzw. „reproduktiven Rechten“ auch die folgenden Aufforderungen: „Die Regierungen sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um Frauen zu helfen, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden, die auf keinen Fall als Methode der Familienplanung gefördert werden sollte, und in allen Fällen für eine humane Behandlung und Beratung von Frauen sorgen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Anspruch genommen haben.“ (7.24) Und „[i]n keinem Fall sollten Schwangerschaftsabbrüche als Methode der Familienplanung gefördert werden […] und die Inanspruchnahme von Schwangerschaftsabbrüche durch erweiterte und verbesserte Dienstleistungen im Bereich der Familienplanung zu verringern..“ (8.25)12
Wir wünschen allen Beteiligten für Ihre Arbeit in der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin die nötige Kraft und den Mut zum Wohl unserer gesellschaftlichen und individuellen Zukunft zu entscheiden.
1 Fussnote zur Überschrift ‚Autoritätsethik‘: Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band II, 1916, S. 197.
2 Siehe Robert Jütte, Die Geschichte der Abtreibung – Von der Antike bis zur Gegenwart, Beck’sche reihe, 1993, S. 120.
3 Vgl. Friedrich Engels – „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats“ in: Karl Marx/Friedrich Engels-Werke. (Karl) Dietz Verlag, Berlin. Band 21, 1962, S. 68. (https://marxwirklichstudieren.files.wordpress.com/2012/11/engels-ursprung-der-familie-usw.pdf; hier S. 46 von 162, zuletzt aufgerufen am 20.04.2023).
4 Vgl. Simone de Beauvoir, Das andere Geschlecht Sitte und Sexus der Frau, 1968, Rowohl Verlag GmbH, S. 474; Robert Spaemann – “Kein Recht auf Leben?” in “Auf Leben und Tod – Abtreibung in der Diskussion”, Hg. Hofacker u.a., 1985, S. 77 bzw. S. 8.
5 Siehe Dienerowitz Fet al., Gründe für den Schwangerschaftskonflikt in Deutschland – ein Untersuchungsansatz, Geburtsh Frauenheilk, 2022; 82: 689–692 | © 2022. Thieme. All rights reserved.
6 Max Horkheimer, in „Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen – Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior“, 9.-16. Tausend Mai 1971, Furche Verlag, S. 86.
7 Siehe Robert Jütte, Die Geschichte der Abtreibung – Von der Antike bis zur Gegenwart, Beck’sche reihe, 1993, S. 124f.
8 Rohen & Lütjen-Drecoll, Funktionelle Embryologie, Georg Thieme Verlag KG, 6. Auflage, 2022, S. 22.
9 Max Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Werteethik, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band II, 1916, S. 197.
10 Vgl. https://www.aerzteblatt.de/archiv/59365/Stammzellforschung-Ethische-Verwirrung
11 Max Horkheimer: „Autorität und Familie“, in: Gesammelte Schriften, Band 3: Schriften 1931–1936, Frankfurt a. M., 2. Auflage, 2009, S. 380f.
12 https://www.un.org/development/desa/pd/sites/www.un.org.development.desa.pd/files/icpd_en.pdf.
Bildnachweis: Titelbild: https://unsplash.com/photos/9KAXhIwWvbg?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; schwangere Frau schaut in den Himmel: https://unsplash.com/photos/kS0PBh1LnBo?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink
Michael Eitler
Abtreibung ist Mord. Nur wer weiß, dass bei einer Abtreibung das Kind durch Absaugung zerfetzt wird und Schmerz empfindet, kann hier mitreden. Wenn heute durch die Abtreibungspille die Zahlen in 🇩🇪wieder steigen, ist Aufklärung überlebensnotwendig. Wenn alle Menschen, die wissen, was Abtreibung ist, dies laut artikulieren würden, hätten wir keine Blutschuld ( Sünde vor dem lebendigen Gott – dem Schöpfer aller Dinge ) und auch keinen Fachkräftemangel. Der 218 er ist Schutz und keine Diffamierung oder Bevormundung der Männer. Der eigentliche Sinn und das Abstimmungsergebnis von 1994 ist aktuell und darf auf keinen Fall angetastet werden.