Der Mensch müsste rein biologisch betrachtet eigentlich rund 22 Monate im Bauch seiner Mutter verbringen. Tut er aber nicht. Aus gutem Grund. Denn das wäre absolut unmöglich für Mutter und Kind. Warum? Das erfahrt ihr hier.
„Stellen wir uns ein neugeborenes Baby vor, das zum ersten Mal in seinem Leben selbstständig Luft holt, zu schreien anfängt und schließlich erschöpft von den Strapazen der Geburt instinktiv nach der Mutterbrust sucht. Gerade erst angekommen in unserer turbulenten, unübersichtlichen Welt braucht es den Schutz, die Versorgung und Orientierung durch einen verständnisvollen und zutiefst vertrauenswürdigen Menschen, seine Mutter.“1
Aber warum braucht der Mensch seine Mutter? Der Mensch kommt unreif zur Welt, schreiben Johannes W. Rohen und Elke Lütjen Drecoll in ihrem Lehrbuch Funktionelle Embryologie: „In den letzten Schwangerschaftsmonaten erfolgt zwar ein rapides Wachstum des Gehirns, aber die Gliedmaßen und die inneren Organe bleiben im Wachstum zurück.“2
Nicht das Becken sprengen
Dass der Mensch so unfertig zu Welt kommt hat seinen Sinn. Der Mensch verbringt zwar, verglichen mit anderen Lebewesen, eine relativ lange Zeit im Bauch seiner Mutter. Dort kann das Kind in Ruhe wachsen und sich entwickeln. Aber zu viel und noch länger dürfte vor allem der kindliche Kopf in der Gebärmutter nicht wachsen. Denn der mütterliche Beckenausgang ist dafür nicht geeignet. Ein größerer Kopf und ein größerer Beckenausgang würden Frau-Mutter auf die Bretter schicken.
Deswegen kann man beim weiblichen Becken im Zusammenspiel mit der Schwangerschaft eine meisterhafte Präzisionsarbeit bewundern. Denn „[z]um einen muss das größer gewordene Menschenköpfchen durch, zum anderen darf der Beckenausgang nicht zu groß konzipiert werden, um den aufrechten Gang nicht zu gefährden“, schreibt der Gynäkologe Prof. Dr. Huber in „Wunderwerk Frau – warum das ’schwache‘ Geschlecht das wahrhaft starke ist“3
Das perfekte Zusammenspiel…
Prof. Dr. Huber beschreibt retrospektiv dieses Zusammenspiel in der menschlichen Entwicklung wie folgt:
„Der Durchmesser des weiblichen Beckens beträgt zehn Zentimeter, größer kann/ darf er nicht sein, das wäre mit dem Beckenboden und der Vertikalität des Körpers [gem. ist der aufrechte Gang] nicht kompatibel. Dies wiederum hatte zur Folge, dass die Menschenkinder trotz der explosionsartigen Hirnentwicklung unreif zur Welt kommen müssen und angewiesen waren auf jemanden, der sie ernährt, trägt, reinigt, mit ihnen schmust und sie behütet. […] Hätten Babys noch mehr Zeit im Mutterleib zum Wachsen gehabt, wäre der Beckenausgang für ihre Köpfchen einfach zu eng geworden. Die Kinder mussten also unreif zur Welt kommen und brauchten biologisch kompromisslos eine Mutter wie kaum eine andere Spezies.“3
…geht über die Bindung
Aber nicht nur rein biologisch braucht das Kind kompromisslos seine Mutter. Für eine gesunde seelische und geistige Entwicklung ist eine gute Bindung zwischen Mutter und Kind nahezu unersetzlich. Unter der Überschrift „Bindung braucht ein Gegenüber“ hat es u.a. Romy Richter5 perfekt auf den Punkt gebracht:
[Mit freundlicher Genehmigung ihr dürfen wir ihren Beitrag (siehe FN. 6) hier posten. Danke! Die Bilder haben wir von Unsplash beigefügt.]
„Am Anfang eines solchen Menschenlebens ist uns dessen Bedürftigkeit durchaus nachvollziehbar und bewusst. Doch oft schon nach einem Jahr erwarten wir, dass das Kleine ersatzweise auch mit weiteren Bezugspersonen zurecht kommt und auf die unmittelbare Gegenwart seiner Mama verzichten kann. Was für ein Trugschluss: das Durchtrennen der Nabelschnur hat Mutter und Kind nur äußerlich entzweit, innerlich entsteht jetzt ein neues, sensibles Band zwischen ihnen: die Bindung.
Die Bedeutung der Bindung für das Kind
Für das Kleine ist diese Bindung absolut überlebensnotwendig, denn in der Beziehung zu seiner Bindungsperson lernt es, zu vertrauen, angenommen, geliebt und wertvoll zu sein, versorgt und verstanden zu werden. Es erfährt, dass jemand auf seine Bedürfnisse Rücksicht nimmt und gewillt ist, sein Schreien und Sprechen verstehen zu wollen. Diese Erfahrungen stärken seinen Selbstwert und machen Mut, zum Lernen und erforschenden Ausprobieren. Sie hemmen Ängste wie etwa verlassen zu werden oder allein zu sein und helfen ihm, in heiklen Situationen schneller wieder zu entspannen. Die Gegenwart seiner vertrauten Bindungsperson schafft eine Atmosphäre von Freiheit und Unbeschwertheit, die seiner Gesamtentwicklung (sowohl psychisch als auch physisch) dient und zudem die Ausreifung des kindlichen Gehirns begünstigt – sie erlaubt ihm schließlich, ganz unbeschwert Kind zu sein und sich nicht (um sich selbst) sorgen zu müssen. ‚Man braucht nur eine Insel allein im weiten Meer. Man braucht nur einen Menschen, den aber braucht man sehr‘, schreibt Mascha Kaleko.
Die Notwendigkeit der Präsenz der Bezugsperson
Kein Kind kann ohne diese Bindung sein: Es muss einer liebenden, reifen Person anhängen dürfen und von ihr Schritt für Schritt ins Leben begleitet werden. Das Schaubild (siehe unten) zeigt, in welcher Intensität kleine Kinder in einem bestimmten Alter dazu die Nähe ihrer Mutter brauchen: Entgegen aller Behauptungen, Kinder müssten möglichst schnell und frühzeitig zur Selbstständigkeit angehalten werden, braucht diese natürliche Ausreifung, die nicht erzwungen werden kann, zuallererst die Nähe und Abhängigkeit zur Bezugsperson. In den ersten drei Lebensjahren ist dazu die persönliche Präsenz der Bindungsperson erforderlich, denn dasKleine bindet sich in dieser Zeit völlig unbewusst zuerst über die Sinne (Schmecken, Fühlen, Riechen, Sehen, Hören von Mama), beginnt dann im zweiten Lebensjahr sie nachzuahmen und nimmt sie im nächsten Schritt ganz für sich in Anspruch. Aus dem Gefühl der Zugehörigkeit zu ihr entsteht schließlich Loyalität: Das Kind folgt und gehorcht seiner Bezugsperson und kann auf dieser Basis alles von ihr lernen, was für das menschliche Über- und Zusammenleben wichtig ist (vgl. Gordon Neufeld ‚Unsere Kinder brauchen uns‘).
Grenzen von Vereinbarkeit
Da der instinktive Bindungshunger eines Kindes so stark ausgeprägt ist, dass es in seiner kindlichen Hilflosigkeit grundsätzlich jedem anhängt, der sich ihm bietet und dabei selbst nicht auswählen kann, wer gut und „geeignet“ für ihn ist, stellt sich die Frage danach, wieviel Eltern wir praktisch sein wollen und wieviel Zeit wir in die Bindung zu ihm investieren, ganz neu. Denn offensichtlich passen das Bindungsbedürfnis der Kleinkinder und die Erfordernisse des Arbeitsmarktes nicht zusammen: Kein Elternteil kann mit ungeteilter Aufmerksamkeit die notwendige Bindung zum Kind knüpfen und zugleich seiner bisher gewohnten Arbeit nachgehen. Mütter, die über das Ausmaß ihrer Berufstätigkeit nachdenken, sind also gleichsam herausgefordert zu entscheiden, ob sie persönlich für die Bindung zu ihrem Kind Sorge tragen oder eine Betreuungsperson (Großeltern, Tagesmutter, Erzieherin) damit beauftragen – eine Entscheidung mit großer Tragweite, die schließlich die Qualität und Tiefe der eigenen Beziehung zum Kind betrifft.
Rolle der Bezugsperson
Die Bindungsperson genießt alle Vorteile, die aus dieser intensiven Beziehung heraus resultieren: Sie wird für das Kind zur
Vertrauensperson, an die es sich bei Kummer oder Fragen wendet und Schutz und Verständnis erwartet. Sie wird zum Vorbild, dem das Kind nacheifert und es imitiert, zum Tröster, zum Wegbegleiter und schließlich zum Wertevermittler. Bindung ist Grundvoraussetzung dafür, dass Erziehung auf fruchtbaren Boden fällt und Kinder sich führen lassen und gehorchen. Eltern sollten sich darüber im Klaren sein, dass sie diese wertvolle Einflussnahme und Chance auf Prägung ihres Kindes aus der Hand geben, wenn sie es in den ersten Lebensjahren nicht selbst betreuen, sondern eine vielstündige, tägliche Trennung zu ihm in Kauf nehmen. Sie sollten deshalb sehr genau überlegen, ob sie ihr Kind regelmäßig in fremde Hände geben und wem sie es anvertrauen. Je mehr Bindungen ein Kind zu verschiedenen Personen zwangsläufig eingeht, umso lockerer und unsteter sind diese Beziehungen und umso weniger Halt und Orientierung werden sie ihm bieten.
Mogelpaket Quality Time
Die Notwendigkeit der Präsenz der Mutter in den ersten Jahren macht auch deutlich, warum sogenannte ‚Qualitätszeiten‘
mit dem Kind für einen stabilen Bindungsaufbau allein nicht ausreichen: Kleine Kinder benötigen ihre Bindungsperson bei sich – vor allem dann, wenn sie traurig sind, mitteilen wollen, was sie soeben erlebt haben, Schutz suchen et cetera. Geplante Highlights am Wochenende können die vielen verpassten Beziehungsmomente unter der Woche nicht wettmachen. Die zwischenmenschliche Entfremdung, die geschieht, wenn Eltern und Kind oft getrennt voneinander sind, lässt Bindungslücken entstehen, die wiederum nur dadurch schließbar sind, dass Eltern sich ihren Kindern mit ungeteilter Aufmerksamkeit zuwenden und viel Zeit mit ihnen verbringen. Ein Kind kann niemals selbst für seine Bindungen sorgen – das ist Aufgabe und Verantwortung der Erwachsenen. Sie stellen sich ihm im Idealfall bereitwillig als Wegbegleiter, Lehrer, Beschützer, Verstehende und Wissende zur Verfügung.“6
P.S. Romy Richter von Nestbau e.V. steht beim Thema Bindung gern zur Verfügung. Sie hält Vorträge und bietet Workshops nicht nur für interessierte Eltern(gruppen) an, sondern auch für die Mütter, die Bindung nachträglich geben wollen, weil sie merken, dass da etwas schiefgelaufen ist und das Kind Mangel gelitten hat. Das einfach für euch zur Info und zum Weitersagen. Sollte Interesse bestehen, einfach melden: Nestbau e.V. – Themen und Vorträge
Quellen zuletzt aufgerufen am 09.02.2023
1: Romy Richter (Nestbau e.V.), Bindung braucht ein Gegenüber, in Heft „Wir geben den Familien eine starke Stimme“ der Stiftung für Familienwerte, S. 9 bzw. hier https://docs.wixstatic.com/ugd/aeefb4_c161a468bc774490a9d708a7cde04d58.pdf
2: Rohen & Lütjen-Drecoll, Funktionelle Embryologie, Georg Thieme Verlag KG, 6. Auflage, 2022, S. 1
3: Prof. Dr. Johannes Huber; Wunderwerk Frau – „warum das ’schwache‘ Geschlecht das wahrhaft starke ist“; 1. Auflage; 2022; Unzer Verlag GmbH; S. 31
4: ebd.
5: Romy Richter, Mitgründerin von Nestbau e.V.,leitet die Redaktion der Nestbau-Website und gibt der Vereinsarbeit eine Stimme – sowohl in Zusammenarbeit mit weiteren Verbänden deutschlandweit, als auch durch Vorträge in und um Chemnitz. Aktuell macht sie eine Ausbildung für systemische Beratung mit der Perspektive umfassenderer Familienberatung. Ihre Vortragsthemen und das Angebot zur Beratung stehen allen Eltern offen- egal welche Betreuungsform sie für ihre Kinder wählen. (siehe https://www.nestbau-familie.de/verein/unser-team/)
6: Richter, 2019, https://docs.wixstatic.com/ugd/aeefb4_c161a468bc774490a9d708a7cde04d58.pdf siehe FN. 1
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