Vor Kurzem haben wir uns den Film „Der vermessene Mensch“ im Kino angeschaut. Ein sehr eindrucksvoller Film über den deutschen Völkermord an den Herero und Nama aus der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“. Wir wollten euch hier ein paar unserer Eindrücke mitteilen.
Handlung
Hauptfigur des Films ist der Ethnologe Alexander Hoffmann, der an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin eifrig seinem Professor zuarbeitet und irgendwie versucht die Fußstapfen seines bereits verstorbenen Vaters, ebenfalls Ethnologe, zu finden. Im Zuge der „Deutschen Kolonial-Ausstellung“ (1896) bekommen Hoffmann und seine Kommilitonen ‚ein paar lebende Exemplare der Wilden aus Afrika‘ für ihre Untersuchungen zur Verfügung gestellt.
Hoffmann wird die Dolmetscherin der Gruppe aus „Deutsch-Südwestafrika“, Kezia Kambazembi, zugeteilt. Hier ereignet sich allen Unmenschlichkeiten zum Trotz ein ganz wunderbarer und entscheidender Moment des Films. Die Studenten hatten die Aufgabe erhalten, die Köpfe der „Buschmenschen“ zu vermessen. Daraus solle man Rückschlüsse und Begründungen über die Rassenunterschiede bzw. die Sonderstellung der Weißen ziehen können. Hoffmann jedoch findet in dieser wissenschaftlich analytischen Aufgabe kein Untersuchungsobjekt: Plötzlich erkennt und sieht er Kezia. Sie sitzt ihm gegenüber, Angst erfüllt und es fließen Tränen über ihre Wangen. Sie zeigt menschliche Regungen und irgendwie beginnt Hoffmann sie als einen gleichwertigen Menschen zu sehen. Er sieht ihre Person. Ganz subtil und feinfühlig versteht es der Film diese Erkenntnis zu vermitteln. Kontrastiert und damit verstärkt wird dieser Moment als der Herr Professor zu Kezia und Alexander Hoffmann kommt, ihr barsch ein Messinstrument an die Schläfen hält und Kezia durch seine grobe Art eine Schnittwunde zufügt.
Hoffmann sucht am Abend Kezia noch einmal auf. Man merkt, dass er ihr sehr zugeneigt ist. Er erkundigt sich nach ihrem Wohlergehen und wolle ihr gern ein paar Fragen stellen. Seine Fragen führen dem jungen Forscher dann immer mehr und mehr das Menschsein Kezia’s bzw. aller anderen Herero vor Augen. Dies veranlasst ihn wenig später einen Aufsatz mit der Kernfrage zu verfassen, ob es minderwertige Rassen gebe. Sein Professor, gar nicht begeistert, stellt ihm seinen wissenschaftlichen Niedergang vor Augen wenn er dieser Frage, die total gegen den damaligen wissenschaftlichen Diskurs stand, nachgehen würde.
Dieser Konflikt, der sich im Prizip an dieser Frage entbrennt, zieht sich dann durch den Film. Was will Alexander Hoffmann? Den Ruhm und die Anerkennung der wissenschaftlichen Elite? Will er den vorherrschenden Diskurs mit seinen Beiträgen bestätigen, um so ein großer Ethnologe werden zu können? Oder will er allem Widerstand zum Trotz der Welt zeigen, dass es keine minderwertigen Menschen gibt?
Die Gruppe der Herero reist zurück in ihr Land. Kurz darauf bricht jedoch der Krieg zwischen ihnen und ihren deutschen Besatzern aus. Hoffmann wird als wissenschaftlicher Mitarbeiter nach „Deutsch-Südwestafrika“ geschickt. Er soll dort Material für das Völkerkundemuseum in Berlin beschaffen. Hoffmann gerät immer wieder in einem Zwiespalt: Er will die Anerkennung und den Ruhm, gleichzeitig kämpft er gegen das Unrecht, das den Herero und Nama angetan wird. Immer wieder verweist er alle anderen auf ihr Menschsein, appelliert an das Mitgefühl der Soldaten und versucht sie z.B. dazu zu bewegen den fliehenden Frauen und Kindern Zugang zu einer Wasserstelle zu gewähren. Vergeblich. Es scheint als renne Hoffmann gegen Mauern. Uneinreisbar.
Das zermürbt ihn. Er forscht und stellt immer wieder fest, dass es keine signifikanten Unterschiede zwischen schwarzen und weißen gibt. Doch sein innerer Konflikt wird immer größer, so dass seine Suche ihn auch über moralische Grenzen hinweg treibt. Er legt später im Film seine neueren Ergebnisse dem Professor vor. Doch dieser verweit ihn immer wieder auf die darwinsche Evolution1 und regt an tiefer zu suchen. Hoffmann solle doch mal die Schädel der sehr viel älteren Herero untersuchen, dann werde er schon erkennen, dass diese viel kleiner sind als die der weißen Menschen. Ein paar Filmminuten später werden Gräber geschändet. Es zereist ihn. Aber als er danach gefragt wird, verneint er lügend diese Tat. Hoffmann kann sich nun nicht mehr im Spiegel anschauen, was im Film stilistisch wunderbar dargestellt wird.
Weiterhin ist er auf der Suche nach Kezia. Die Frau, in der er in Berlin ein echtes Gegenüber erkannt hat. Er findet sie am Ende des Films, gefangen in einem Konzentrationslager. Dort schabt und kocht die einst so anmutige Frau die Totenschädel ihrer Landsleute für das Völkerkunde Museum aus. Aber diesmal zeigt sie keine menschlichen Regungen mehr. Alles an ihr gleicht einem stumpfen, mechanischen Gehorsam. Ein blinder Überlebenswille. Der Leiter des Lagers führt Hoffmann zu ihr. Sie bemerkt es nicht. Sie ist zu sehr abgestumpft. Als Alexander Hoffmann sie in dieser Lage sieht, leugnet er plötzlich sie zu kennen. Sie sei nicht die Frau nach der er gesucht hatte. Er flieht. Nach all den Wirren, die er durch Krieg und seine eigene Forschung erlebte, hält er es nun nicht mehr aus ihr unter die Augen zu treten geschweige denn in sie zu schauen. Das ist dann auch die letzte menschliche Regung, die man von Hoffmann zu sehen bekommt. Danach ist auch er völlig stumpf und will von seinem einstigen Kampf nichts mehr wissen. Der Kampf der Welt zu zeigen, dass es keine minderwertigen Rassen gibt scheint verloren.
Was sehen wir?
Der Film ist nichts für schwache Nerven. Er wühlt auf. Lässt den Zuschauer stumm im Kinosessel zurück.
Gleichzeitig hat er eine starke Aussage. Hoffmann forscht in immer detailiertere Weise und versucht damit zu zeigen, dass es keiner minderwertige Rasse gibt. Dabei verliert er aber das Menschsein, er verliert das was er am Anfang in Kezia Kambazembi gesehen hat, aus dem Blick. Er sieht nur noch Schädel, Messwerte und Kulturgegenstände. In gewisser Weise analysiert er die Herero zu Tode. Er durchschaut zwar die Lüge der Rassenlehre, sieht aber am Ende nichts mehr. Es ist paradox. Hoffmann hat den Menschen, den er untersuchte aus dem Blick verloren.
Ist der aktuelle Diskurs nicht auch so? Hat man nicht auch erkannt, dass der Embryo ein Mensch ist, der sich von Anfang an entwickelt? Haben wir nicht auch geforscht und versucht alle Details herauszufinden? Wollten wir nicht genau erkennen wann das Herz schlägt, wann welches Organ sich entwickelt? Aber dabei haben wir den Embryo als individuellen Menschen, als Person, völlig aus den Augen verloren. Obwohl auch er menschliche Regungen zeigt.2
Wir haben viele Geheimnisse der Embryologie durchschaut und doch sehen wir den Embryo, den kleinsten aller Menschen, in seiner Würde, Einzigartigkeit und seinem Personsein nicht mehr. Es ist wie C.S. Lewis es in „Die Abschaffung des Menschen“ feststellte: „Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.“3
P.S. Dieses Prinzip bzw. die menschliche Vermessenheit gilt nicht nur für die zwei hier angesprochenen Facetten.
Quellen:
1: Vgl. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten, aus dem Englischen von Julius Victor Carus, 10. Auflage, 2020, Nikol Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG.; Darwin fand in „Das Bevölkerungsgesetz“ von Thomas Robert Malthus ein großes richtungsweisendes Werk (vgl. Darwin, S. 38 bzw. 98), wir hatten hier über https://youngandfree-kaleb.de/t-r-malthus-das-bevoelkerungsgesetz/ geschrieben. Empfehlenswert ist auf Artikel über Sozialdarwinismus der Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214188/was-ist-sozialdarwinismus/.
2: Menschliche Regungen des Embryo siehe dazu u.a. ‚Der Embryo leidet bei einer Abtreibung‘, ‚Babys reagieren schon vor der Geburt auf Geschmacksreize‘, ‚Listen to this‘, ‚Zitat des Tages XI – Empfindung‘.
3: C.S. Lewis, Die Abschaffung des Menschen, 2020, 9. Auflage, Johannes Verlag, S. 82: „Man kann nicht endlos die Dinge ‚durchschauen‘. Durch sie hindurchschauen hat nur Sinn, wenn man durch sie hindurch etwas sieht. Es ist gut, daß ein Fenster durchsichtig ist, weil die Straße oder der Garten dahinter undurchsichtig sind. Wie, wenn man auch durch den Garten hindurchsehen könnte? Es führt zu nichts, die Ersten Prinzipien ‚durchschauen‘ zu wollen. Wenn man durch alles hindurchschaut, dann ist alles durchsichtig. Aber eine völlig durchsichtige Welt ist unsichtbar geworden. Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.“ (ebd., das Zitat im Kontext); Lewis schrieb im gleichen Werk: „Das Endstadium ist da, wenn der Mensch mit Hilfe von Eugenik und vorgeburtlicher Konditionierung und dank einer Erziehung, die auf perfekt angewandter Psychologie beruht, absolute Kontrolle über sich selber erlangt hat. Die menschliche Natur wird das letzte Stück Natur sein, das vor dem Menschen kapituliert. […] Denn die Macht des Menschen, aus sich zu machen, was ihm beliebt, bedeutet […] die Macht einiger weniger, aus anderen zu machen, was ihnen beliebt.“ (ebd., S. 62).
Bildernachweis: Titelbild Messgeräte: https://unsplash.com/photos/dQf7RZhMOJU?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; afrikanisches Kind: https://unsplash.com/photos/vWwZOjByfr0?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink
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