Zum 150-jähriges Jubiläum der diakonischen Einrichtung Bethel1 hatte der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2017 in Bielefeld damals einen interessanten Gedanken geäußert:
Der Wert einer Gesellschaft
„Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder verfährt. Gustav Heinemann, dem dieser Satz zugeschrieben wird, hat damit, wenn man so will, die Botschaft des caritativen Werks der von Bodelschwinghschen Stiftungen formuliert. Sie wurzelt im christlichen Glauben und beruht auf der Achtung der unveräußerlichen Würde eines jeden Menschen, als Geschöpf Gottes wie als Bürger unseres Staates. […] Und diese Botschaft ist, so glaube ich, unverändert aktuell. Wer Gemeinschaft verwirklichen will, muss das Verständnis und muss die Verantwortung füreinander stärken.“2
Diese Botschaft ist tatsächlich unverändert aktuell und galt vermutlich schon immer. Das Institut für medizinische Anthropologie und Bioethik Wien (IMABE) hatte bereits 2002 in einem Aufsatz „Geschichtlicher Überblick über Infantitzid und den Umgang mit schwerst geschädigten Neugeborenen“3 herausgefunden, dass „[d]er Umgang mit schwerst geschädigten Neugeborenen bzw. missgebildeten Kindern […] im Laufe der Menschheitsgeschichte die Betroffenen immer wieder vor entscheidende Fragen gestellt“ 4hat. „Grundsätzlich kann festgestellt werden, dass im Laufe der Menschheitsgeschichte Infantizid sowohl aus ökonomischen, religiösen und eugenischen Gründen, als auch aus sozialen Gründen des Überlebens praktiziert wurde.“5
Wie viel ist eine Gesellschaft Wert, um das Zitat von Gustav Heinemann wieder aufzugreifen, wenn sie aus ökonomischen, religiösen und eugenischen und sozialen Gründen des Überlebensihre schwächsten Glieder ausstößt? Abtreibt?
Warum schreibe ich das? Rona Torenz hat in der Anhörung im Rechtsausschuss am 10.02.2025, gesagt, dass „nicht zuletzt […] die ELSA-Ergebnisse einen klaren Zusammenhang zwischen schwierigen Lebenslagen und dem Auftreten ungewollter Schwangerschaften [zeigen]. Ungewollt Schwangere sind deutlich häufiger in konflikthaften Beziehungen und prekären Arbeitsverhältnissen. Sie haben häufiger mit finanziellen Schwierigkeiten und beengten Wohnverhältnissen zu kämpfen. Daher können finanzielle Unterstützung und soziale Sicherung, die wirklich die Lebensverhältnisse verbessern, dazu beitragen, dass ungeplante Schwangerschaften eher gewollt sind.“6
In ihrer schriftlichen Stellungnahme schreiben die Autoren der ELSA-Studie etwas präziser:
„Die ELSA-Daten zeigen, dass bei ungewollt Schwangeren – vor allem jenen, die ihre Schwangerschaft abbrechen – deutlich häufiger schwierigere Lebenslagen auftreten als bei gewollt Schwangeren. Ein (weiteres) Kind kann diese schwierigen Lebenslagen und die daraus resultierenden Belastungen verstärken. Beispielsweise können finanzielle Schwierigkeiten, beengte Wohnverhältnisse, die Herausforderung der beruflichen Vereinbarkeit, fehlende berufliche Etablierung, ein unpassendes Alter oder eine schlechte Partnerschaft zu erheblichen Problemen führen. Die Kumulation solcher nachteiliger Lebenslagen führt zu zusätzlichen Belastungen und tritt häufiger bei ungewollten Schwangerschaften, insbesondere abgebrochenen Schwangerschaften auf. Es ist davon auszugehen, dass diese belastenden Lebenslagen in vielen Fällen der Grund dafür sind, dass eine Schwangerschaft als ungewollt wahrgenommen und schließlich die Entscheidung zu einem Abbruch getroffen wird. Auf Grundlage dieser Erkenntnisse zeigen sich Anhaltspunkte, dass eine stärkere staatliche Unterstützung von Familien mit Kindern – insbesondere solchen mit kumulierten schwierigen Lebenslagen – in einem Umfang, der die aktuelle Lebenssituation verbessert, in einigen Fällen dazu beitragen kann, dass Schwangerschaften nicht als ungewollt erlebt werden sowie ungewollt Schwangere sich nicht aufgrund schwieriger Lebensumstände für das Abbrechen einer Schwangerschaft entscheiden.“7
Die ELSA-Daten zeigen damit erstens, dass nicht das Kind die Probleme hervorruft, sondern, dass die Probleme bereits vor dem Kind existierten. Zweitens wird deutlich, dass Schwangerschaftsabbrüche nicht mit Selbstbestimmung gleichgesetzt oder Synonym behandelt werden können. „My Body, My Choice“ wird auch davon bestimmt, dass „ungewollt Schwangere sich […] aufgrund schwieriger Lebensumstände für das Abbrechen einer Schwangerschaft entscheiden.“8 Außerdem hilft, drittens, eine vermeintliche Abschaffung des §218 im Grunde Niemanden und senkt womöglich auch keine Abtreibungszahlen. Es würde zu weit gehen zu behaupten dieser feministische Kampf um §218 würde dem Sinne der Leidtragenden widerstreben. Aber die Gesetzes-Abschaffung ist nicht der eigentliche Grund und wäre vermutlich nur etwas für das falsch verstandene feministische Ego. Er würde offenbaren, dass man hier nicht für die Frauen sondern lediglich gegen staatlich/gesetzliche Unterdrückung in Form des §218, kämpft. Der eigentliche Grund ist laut ELSA nicht der §218, wohl aber sind es die schwierigen Lebenslagen, in der Studie präzisiert als „finanzielle Schwierigkeiten, beengte Wohnverhältnisse, die Herausforderung der beruflichen Vereinbarkeit, fehlende berufliche Etablierung, ein unpassendes Alter oder eine schlechte Partnerschaft“.9
Das wären zwei der eingangs zitierten Gründe, ökonomische und soziale, die schon über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg ausschlaggebend waren und den (Un)Wert einer jeweiligen Gesellschaft erkennen liesen. Wie also gehen wir mit unseren schwächsten Gliedern und deren Müttern/Familien um?
Die ELSA Studie fand an diesem Punkt heraus, was seit 1994 international gefordert wird. In der Abschlusserklärung der Weltbevölkerungskonferenz 1994 (Kairo), welche von insgesamt 179 Staaten einstimmig angenommen wurde, heißt es: „Die Regierungen sollten geeignete Maßnahmen ergreifen, um Frauen zu helfen, Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden, die auf keinen Fall als Methode der Familienplanung gefördert werden sollte, und in allen Fällen für eine humane Behandlung und Beratung von Frauen sorgen, die einen Schwangerschaftsabbruch in Anspruch genommen haben.“ (7.24) Und „[i]n keinem Fall sollten Schwangerschaftsabbrüche als Methode der Familienplanung gefördert werden […] und die Inanspruchnahme von Schwangerschaftsabbrüche durch erweiterte und verbesserte Dienstleistungen im Bereich der Familienplanung zu verringern..“ (8.25)10
Der gemeinsame Nenner?
Vereine und Verbände, die sich für das Recht auf Leben eines jeden Menschen von seiner Zeugung bis zum natürlichen Tod einsetzen, helfen seit Jahrzehnten wo sie nur können.11 Aber auch Vereinen, die sich für eine Liberalisierung der Gesetzgebung aussprechen, kann man dieses Engagement definitiv nicht absprechen.
Die häufig erwähnte Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin hatte bei ihrer Entscheidungsfindung verschiedene Verbände und Vereine um eine Stellungnahme gebeten. Alexandra Linder, Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht e.V., forderte z.B. „ein kinder- und familienfreundliches Umfeld, in dem Lebensleistung nicht allein in Geldwert bemessen wird und Kinder kein Armutsrisiko sind.“12 Pro Familia schrieb, dass „[d]ie staatliche Verpflichtung zum Schutz pränatalen Lebens […] nur mit geeigneten Mitteln umgesetzt werden [darf]. Dazu gehören u. a. Maßnahmen gegen Armut und zur Stärkung von sozialer Gerechtigkeit“.13 In diesem Punkt ist man sich scheinbar einig, wird wissenschaftlich unterstützt und von der internationalen Gemeinschaft getragen. Wann fangen wir gemeinsame an? Wann helfen wir den vielen Frauen, dass ihre „Schwangerschaften nicht [mehr] als ungewollt erlebt werden“.14 Wann helfen wir den schwächsten Gliedern unserer Gesellschaft und wann sehen wir sie überhaupt auch als solche an? Wann lassen wir den Kampf um den §218 ruhen, weil, wie Prof. Dr. Gregor Thüsing es in seinem Statement in de Anhörung sagte: „Das Strafrecht ist nicht das Problem. Das Strafrecht ist auch nicht die Lösung. – Herzlichen Dank.“15
1 „Für Menschen da sein: Das ist der Auftrag Bethels seit der Gründung 1867. Heute engagieren sich die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel in vielen Bundesländern für behinderte, kranke, alte oder benachteiligte Menschen. Bethel ist eine der größten diakonischen Einrichtungen Europas. In über 150 Jahren ist ein vielfältiges Netz der Hilfe entstanden. Zu ihm gehören Assistenz- und Pflegeleistungen in der eigenen Häuslichkeit, besondere Wohnformen, Pflegeeinrichtungen, Kliniken und Hospize, Angebote zur Teilhabe an Bildung, Rehabilitation und Arbeit sowie Schulen, Ausbildungsstätten und Hochschulen.“ Zitat von https://www.bethel.de/ueber-bethel/das-ist-bethel, zueltzt aufgerufen am 20.02.2025.
2 Frank-Walter Steinmeier, 150-jähriges Jubiläum Bethel, Rede, Bielefeld, 17. April 2017, https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2017/04/170417-Bethel.html, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
3 Conny Martens, Geschichtlicher Überblick über Infantitzid und den Umgang mit schwerst geschädigten Neugeborenen, IMABE, Imago Hominis, Band 9 • Heft 1, S. 27 – 23 ISSN 1021-9803, https://www.imabe.org/fileadmin/imago_hominis/pdf/IH009_027-040.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
4 ebd, S. 1.
5 ebd., S. 2.
6 Sachverständige Rona Torenz M.A. M.A., Fragerunde, 10.02.2025, Anhörung Rechtsaussschuss, Berlin, https://www.bundestag.de/resource/blob/1050342/4ae341057e7c53385bed5cdca3273777/a06_133_prot.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
7 Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ und zum Antrag „Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern“, Stellungnahme Rona Torenz M.A. M.A., https://www.bundestag.de/resource/blob/1049686/880b983de6f45d978c63a2a1864223ac/Stellungnahme-Torenz_ELSA.pdf, S. 10, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
8 ebd., Herorheb. d. Autors.
9 ebd.
10 https://www.un.org/development/desa/pd/sites/www.un.org.development.desa.pd/files/icpd_en.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
11 Siehe u.a. https://www.sundaysforlife.org/de/hilfe, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025
12 Stellungnahme Arbeitsgruppe 1 Komission Neuregelung §218, Bundesverband Lebensrecht e.V., Stellungnahme: https://bundesverband-lebensrecht.de/wp-content/uploads/sites/42/2023/10/BVLStellungnahmeKommission1023.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
13 Pro Familia Bundesverband e.V., Im Oktober 2023, https://www.profamilia.de/fileadmin/profamilia/verband/Stellungnahme__Kommission_Neuregelung_pro_familia_2023-10-10.pdf, S. 5, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
14 Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages zum „Entwurf eines Gesetzes zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs“ und zum Antrag „Versorgungslage von ungewollt Schwangeren verbessern“, Stellungnahme Rona Torenz M.A. M.A., https://www.bundestag.de/resource/blob/1049686/880b983de6f45d978c63a2a1864223ac/Stellungnahme-Torenz_ELSA.pdf, S. 10, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
15 Prof. Dr. Gregor Thüsing, Statement ca. 17:41 Uhr, Stenografisches Protokoll der 133. Sitzung, Rechtsausschuss, Berlin, den 10. Februar 2025, 17.00 Uhr, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Saal 3.101 (Großer Anhörungssaal), Adele-Schreiber-Krieger-Straße 1, 10117 Berlin, S. 19, https://www.bundestag.de/resource/blob/1050342/4ae341057e7c53385bed5cdca3273777/a06_133_prot.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
Titelbild: https://unsplash.com/de/fotos/kleinkind-spielt-mit-zwei-holzklotzen-Aqd30KmCc3g?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Mutter flüstert ins Ohr: https://unsplash.com/de/fotos/kleinkind-spielt-mit-zwei-holzklotzen-Aqd30KmCc3g?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
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