Das waren noch Zeiten. Zeiten, in denen die Würde des Menschen als unantastbar galt. Zeiten, in denen sie eine „ethische Unruhe“ in das Rechtssystem brachte und kein Papiertiger war. Aber ganz der Reihe nach. Was war überhaupt passiert? Warum dieser steile Satz? Warum dieses „war“ und nicht das bekannte „ist“?
Was bisher geschah…
Die Schreckensherrschaft der Nazi’s stand den Verfassern des deutschen Grundgesetzes in seiner ganzen Brutalität noch vor Augen. In ihrer Macht spielten die Nazi’s die ganze Klaviatur des „Rechtsstaates“ aus und verabschiedeten z.B. die sog. Nürnberger Rassengesetze oder die Reichsbügergesetze. Plötzlich fielen bestimmte Menschen, in dem Fall die Juden, durch das Raster. Sie waren streng genommen keine Menschen mehr. Alles auf rechtlich abgesicherten Boden. Falsch und Mord war was daraus erwuchst trotzdem. Warum?
Die Verfasser des Grundgesetzes wollten bzw. mussten etwas schaffen, dass dem „Rechtsstaat“ nicht zugänglich war. Günter Dürig schrieb damals den ersten Kommentar zum Grundgesetz. Diese „Kommentierung verstand – und das zeichnete sie aus – die Menschenwürdegarantie als Übernahme eines grundlegenden, in der europäischen Geistesgeschichte hervorgetretenen ’sittlichen Werts‘ in das positive Verfassungsrecht, das sich dadurch selbst auf ein vorpositives Fundament, eine Art naturrechtlichen Anker, wenn man so will, bezieht.“1
Das vorpositive Fundament
Es musste kein Fundament für das Grundgesetz geschaffen werden. Es musste entdeckt werden. In den ideologischen Trümmern der Kriegs- und Diktaturwirren fand man es wieder: Die Schönheit des Menschen. Jedes Einzelnen. Egal ob behindert, groß, klein, dick, dünn, arm, reich, mit oder ohne Hakennasen. Geboren oder ungeboren. Die Schönheit jedes einzelnen gezeugten Menschen. In den Trümmern entdeckte man gleichzeitig den Wert des Menschen wieder.
Ernst-Wolfgang Böckenförde, selbst Richter am Bundesverfassungsgericht, beschreibt dieses Fundament, als ein vorpositives, so: „Jeder Mensch ist Mensch kraft seines Geistes, der ihn abhebt von der unpersönlichen Natur und ihn aus eigener Entscheidung dazu befähigt, seiner selbst bewußt zu werden, sich selbst zu bestimmen und sich und die Umwelt zu gestalten.“ Diese Freiheit zur Selbst- und Umweltgestaltung ist für alle Menschen gleich gedacht, sie ist dem Menschen an sich eigen; nicht die jeweilige Verwirklichung im konkreten Menschen, sondern die ‚gleiche abstrakte Möglichkeit‘, das heißt die potentielle Fähigkeit zur Verwirklichung, ist entscheidend. Auch dem Nasciturus [der geboren werden wird] – wie sollte es für Dürig anders sein – kommt die Menschenwürde einschließlich der daraus entspringenden Rechte zu. ‚Im Augenblick der Zeugung entsteht der neue Wesens- und Persönlichkeitskern, der sich hinfort nicht mehr ändert. In ihm ist alles Wesentliche und Wesenhafte … dieses Menschen beschlossen. Er treibt zur Entfaltung dessen, was keimhaft in ihm liegt und bewirkt, daß der Mensch, mag er wachsen oder vergehen, stets er selber bleibt.‘ Der Nasciturus ist deshalb kraft seiner Menschenwürde Inhaber des Grundrechts auf Leben im Sinne des Artikels 2 Absatz 2 des Grundgesetzes, es gibt kein allgemeineres Recht der Menschheit als Recht auf Leben überhaupt.“2
Die Würde des Menschen…
Sie, die Würde des Menschen, musste so formuliert werden, dass selbst der Staat keinen Zugriff auf sie hat, sie nicht antasten kann. Robert Spaemann, der von uns hochgeschätzte, leider schon verstorbene Philosoph, sagte in einem Interview mit Deutschlandfunk: „Wenn die Menschenwürde nur ein Grundrecht unter anderen ist, dann muss sie auch Einschränkungen möglich machen, denn es gibt kein Grundrecht, das absolut gilt, denn jedes Grundrecht muss mit anderen Grundrechten in Beziehung gesetzt und abgewogen werden. Der Grundgedanke der Verfassungsväter war es, dass die Menschenwürde nicht in Abwägung mit irgendwas anderem gebracht werden darf, sondern strikt und immer gilt.„3
Die Logik ist zwingend. Nicht erst der Staat macht den Menschen wert- und würdevoll. Ohne Menschen, keinen Staat. Der Mensch ist durch sein Menschsein, sein Subjektsein, sein Wesen, würdevoll. Auch ohne Verleihung. Immer. Ob mit oder ohne Staat. Dementsprechen ist „[d]ie Menschenwürde […] dann getroffen, ‚wenn der konkrete Mensch zum Objekt, zu einem bloßen Mittel, zur vertretbaren Größe herabgewürdigt wird'“.4 Mord ist demzufolge immer Mord. Ob es dazu ein Gesetz gibt oder nicht. Das Fundament trägt also. Beziehungsweise es trug…
…war unantastbar
2003 wurde das Grundgesetz neukommentiert. An sich nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich war jedoch die Empfehlung wie man Artikel 1 Absatz 1 GG heute verstehen könne. So heißt es: „Trotz des kategorialen Würdeanspruchs aller Menschen sind Art und Maß des Würdeschutzes für Differenzierungen durchaus offen, die den konkreten Umständen Rechnung tragen.“5
Böckenförde hält dieses Satz für äußerst bedrohlich. Denn hier wird die Würde des Menschen jetzt (wieder) verhandel- und antastbar. Folgt man den Empfehlungen der Neukommentierung, misst man mit mehrerlei Maß, dann wird Würdeschutz zu einer Ansichtssache. Im „Umstand“ eines Schwangerschaftskonflikts zum Beispiel ist das „Maß“ des „Würdeschutzes“ für den Nasciturus, den Embryo, mittlerweile kaum mehr vorhanden. Warum?
Die Neukommentierung, die die derzeitige Sicht des „Würdebegriffs“ widerspiegelt, hat das vorpositive Fundament verlassen. Artikel 1 Absatz 1 ist nun ein Grundrecht unter Grundrechten. Dann, so Spaemann, sind auch Einschränkungen möglich. Dann lieber Nasciturus haben wir vergessen wie schön, wie wert- und würdevoll du bist. Du bist es zwar immer noch. Denn das Fundament, unser Menschsein, bleibt auch ohne staatliche Festschreibung. Aber wir bauen nicht mehr darauf. Leider führt das architektonisch – auch ohne Krieg – wieder zu einem Trümmerhaufen.
Quelle aufgerufen am 09.08.2022:
1: https://empfehlenswertes.files.wordpress.com/2013/05/bc3b6ckenfc3b6rde-faz-2003.pdf; S.2
2: ebd.; S.3
3: https://www.deutschlandfunk.de/die-menschenwuerde-war-unantastbar-100.html
4: siehe Fn. 2
5: ebd.; S. 4
6: ebd.; S.f.
Bilder: Kartenhaus; Frau_mit_akten; Baby, Familie; titelbild
Schreibe einen Kommentar