„Eine behütete Kindheit bringt die Kräfte zur Entfaltung, die einen wahren Menschen ausmachen“ – Max Horkheimer

Ja, richtig gelesen. Max Horkheimer. Es ist schon erstaunlich wie ein anfangs linker Denker, wie Max Horkheimer, der noch in den 1930er Jahren in der Familie die Grundlage für das Führer-hörigkeist-Prinzip sah, sich von der Wirklichkeit hat korrigieren lassen. Das zeugt, in diesem Falle zumindest, von ehrlicher Demut und verlangt meinen großen Respekt.

Wir haben in „Autorität und Familie“ Horkheimers Sichtweisen-Wende nachgezeichnet und konnten anhand seiner Aussagen dafür argumentieren, dass eine funktionierende Familie der wahre Widerstand gegen den Totalitarismus, gegen eine Diktatur, ist. Jetzt haben wir ein weiteres Zitat von ihm gefunden. Nachzulesen unter „Politik und Soziales“ in Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, S. 41f.

„Gestatten Sie mir, das etwas zu verdeutlichen. […] Ehe und Familie [sind] die Grundlage des Gemeinschaftslebens und stehen unter besonderem Schutz des Gesetzes. Es ist darin mehr an Wahrheit enthalten, als es zuerst den Anschein hat. – Aus den Fortschritten der modernen Psychologie ist uns bekannt, daß eine behütete Kindheit erst diejenigen Kräfte zur Entfaltung bringt, die einen arbeits- und genußfähigen, einen wahren Menschen ausmachen. In jedem ist die Anlage zu dem vorhanden, was wir Gewissen nennen. Wer aber nicht das Glück hat, in dem zarten und leicht beeindruckbaren Jahren mit einem zugleich geliebten und geachteten Erwachsenen umzugehen, der wird seelisch verstümmelt bleiben. Wahrheit, Anstand, Gerechtigkeit, innere Unabhängigkeit werden nicht so tief in sein Wesen versenkt und eingebildet, wie es zum geistig unabhängigen, selbständigen, widerstandsfahigen Menschen gehört. Er wird als Erwachsener vielleicht das Gesetz aus Furcht beachten, aber leicht geneigt sein, jeder Macht zu folgen, wenn sie nur die mächtigste ist. Das Kollektiv, sei es auch das der Schule, vermag die zarte und höchst komplizierte geistige Wechselwirkung von Vater, Mutter und Kind nicht nachzuholen oder zu ersetzen, ohne die es zur Bildung des Gewissens, zur wahren Identifikation mit den Ideen der Zivilisation nicht in vollem Maße kommen kann. Wer aber mit gesellschaftlichen Forschungen sich einmal abgegeben hat, der weiß, daß Not und Elend die Familie unterminieren. Er weiß, daß das Absinken großer Schichten in gedrückte Lebensbedingungen, das Verschwinden der Selbständigkeit [wohl auch des Mittelstands, Anm. d. Autors], der zunehmende wirtschaftliche Druck, kurz, die gesellschaftlichen Prozesse, mit denen wir es heute zu tun haben, ihre Folgen über die Erwachsenen aufs Kind und die gesamte Jugend fortsetzen und damit, wenn wir sie nicht gründlich und mit allen Kräften angehen, die Vorbedingungen für die gefolgschaftsbereiten Massen schaffen. Wenn die Menschen erst einmal durch Verkümmerung ihrer Kindheit, durch eine ratlose und furchtbar verkürzte Pubertät zugleich gebrochen und verhärtet sind, dann werden alle Einrichtungen der Freiheit und die beste Verfassung zu Hebeln der Unfreiheit, und der schmähliche Zirkel übt seine zerstörende Wirkung aus.“¹

Die, aus unserer Sicht, wichtigsten Zitat-Aussagen von Horkheimer noch einmal zusammengefasst:

• Eine behütete Kindheit bringt diejenigen Kräfte zur Entfaltung bringt, die einen arbeits- und genußfähigen, einen wahren Menschen ausmachen.
• Wer aber nicht das Glück einer behüteten Kindheit hatte, der wird seelisch verstümmelt bleiben, und Wahrheit, Anstand, Gerechtigkeit, innere Unabhängigkeit werden nicht so tief in sein Wesen versenkt und eingebildet, wie es zum geistig unabhängigen, selbständigen, widerstandsfahigen Menschen gehört.
• Er wird als Erwachsener leicht geneigt sein, jeder Macht zu folgen, wenn sie nur die mächtigste ist.
• Das Kollektiv (z.B. Schule, Kindergarten) vermag die zarte und höchst komplizierte geistige Wechselwirkung von Vater, Mutter und Kind nicht nachzuholen oder zu ersetzen.
• Die zarte und höchst komplizierte geistige Wechselwirkung von Vater, Mutter und Kind führt zur Bildung des Gewissens, zur wahren Identifikation mit den Ideen der Zivilisation.
• Not und Elend unterminieren (in einem allmählichen Prozess bewirken, dass etwas zerstört, abgebaut) die Familie.
• Die gesellschaftlichen Prozesse mit denen wir es heute zu tun haben (bspw. das Absinken großer Schichten in gedrückte Lebensbedingungen, Verschwinden der Selbständigkeit, der zunehmende wirtschaftliche Druck) und ihre Folgen, die sich über die Erwachsenen auf die Kinder und Jugendlichen übertragen, schaffen die Vorbedingungen für die gefolgschaftsbereiten Massen.
• Wenn die Menschen durch Verkümmerung ihrer Kindheit, durch eine ratlose und furchtbar verkürzte Pubertät, gebrochen und verhärtet sind, dann werden alle Einrichtungen der Freiheit und die beste Verfassung zu Hebeln der Unfreiheit.

Das sind jedenfalls Horkheimers sehr beachtenswerte Gedanken. Was sind deine?

Titelbild: https://unsplash.com/de/fotos/family-photo-on-green-grass-during-golden-hour-6c4Uhhe68yQ?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink

1. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften Band 8: Vorträge und Aufzeichnungen 1949-1973, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M., 1985, S. 41f. ↩︎