Teil zwei unserer Fragerunde an Peter Singer. Wie wir gesehen haben, stellt die Geburt keine Grenze dar, an der man Schwangerschaftsabbrüche legitimieren könnte. Aber wie wäre es mit dem Zeitpunkt der (Über)Lebensfähigkeit des kleinen Menschen?
Singer findet einen „wichtigen Einwand gegen den Versuch, die Lebensfähigkeit zur Trennlinie zu machen“ darin, dass der Zeitpunkt, in dem der Fötus außerhalb des Mutterleibs überleben kann je nach Stand der mediznischen Entwicklung variiert. Die Wochengrenze, ab der es Frühgeborene ins Leben schaffen sinkt schon seit Jahren.1
Singer beschreibt dann eine, wie wir finden, geniale Analogie: „Können wir also angesichts dieser medizinischen Entwickungen sagen, bei einem sechs Monate alten Fötus sollte heute kein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen werden, aber vor dreißig Jahren hätte man dies tun können, ohne ein Unrecht zu begehen? Derselbe Vergleich lässt sich nicht nur zwischen Gegenwart und Vergangenheit anstellen, sondern auch zwischen verschiedenen Orten. Ein sechs Monate alter Fötus kann eine gute Überlebenschance haben, wenn er in einer Stadt wie London oder New York geboren wird, wo die modernsten medizinischen Techniken angewendet werden, aber er wird überhaupt keine Chance haben, wenn er in einem abgelegenen Dorf im Tschad oder Neu-Guinea geboren wird. Angenommen, eine im sechsten Monat schwangere Frau hätte aus irgendeinem Grund von New York in ein Dorf in Neu-Guinea reisen müssen und, dort angekommen, keine Möglichkeit gehabt, rasch in eine Stadt mit modernen medizinischen Einrichtungen zurückzukehren. Heißt das etwa, es wäre unrecht gewesen, wenn sie vor ihrer Abrise aus New York die Schwangerschaft abgebrochen hätte, jetzt jedoch, da sie sich in diesem Dorf befindet, dürfte sie einen Abbruch vornehmen lassen? Die Reise ändert doch nichts an der Natur des Fötus, weshalb also sollte sie seinen Anspruch auf Leben aufheben?“ 2
Völlige Abhängigkeit? „Mein Bauch gehört mir!“
Auf die Argumente bezüglich der Lebensfähigkeit, so Singer, könnte man mit der völlig Abhängigkeit des Fötus von der Mutter kontern. Diese Abhängigkeit im Sinne des Protests von „mein Bauch gehört mir“ dürfe aber nicht dahin führen, dass das Lebensrecht des Fötus gegen das Selbstbestimmungsrecht der Mutter ausgespielt werde.
„In anderen Fällen sind wir […] nicht der Ansicht, völlige Abhängigkeit von einer anderen Person bedeutete, daß diese Person über Leben und Tod entscheiden darf. Ein neugeborenes Baby ist ganz und gar abhängig von seiner Mutter, wenn es in einer abgeschiedenen Gegend geboren wird, wo es von keiner anderen Frau gestillt oder mit der Flasche großgezogen werden kann. Eine ältere Frau kann völlig abhängig sein von ihrem Sohn, der für sie sorgt, und eine Frau auf Wanderschaft, die sich fünf Tagesmärsche von der nächsten Straße entfernt ein Bein bricht, wird sterben, wenn ihr Begleiter nicht Hilfe holt. Wir sind nicht der Meinung, daß in diesen Situationen die Mutter ihr Baby, der Sohn seine betagte Mutter oder der Wanderer seine verletzte Gefährtin umbringen darf. Somit ist die Behauptung nicht plausibel, daß die Abhängigkeit des nicht lebensfähigen Fötus von der Mutter ihr das Recht gibt, ihn zu töten“.3
1 Vgl. https://youngandfree-kaleb.de/leichter-als-ein-stueckchen-butter/.
2 ebd., S. 183f.
3 ebd., S. 184.
Bildnachweise: Titelbild: https://unsplash.com/photos/7taJj4dXPv4; Peter Singer: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/0/08/Peter_Singer_no_Fronteiras_do_Pensamento_Porto_Alegre_%289620134920%29.jpg/2048px-Peter_Singer_no_Fronteiras_do_Pensamento_Porto_Alegre_%289620134920%29.jpg
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