Mir sind in letzter Zeit zwei Stücke in die Finger und unter die Augen gekommen, die mich ihrerseits nicht mehr los lassen und die ich für sehr lesenswert empfinde. Beide haben mit unserem Thema scheinbar wenig gemein und erwecken beim ersten Eindruck in etwas ungewöhnlicher Weise aus dem Rahmen zu fallen. Aber es ist der erste Eindruck, der nur so scheint.
Es wird den beiden Werken nicht wirklich gerecht wenn ich mich jetzt an einer einführenden Zusammenfassung versuche. Außerdem gibt es hier und da schon ein paar Erläuterungen und inhaltliche Erklärungen. Ich möchte hier lediglich auf die Werke aufmerksam machen. Falls jemand Frisch oder Kafka daraufhin lesen sollte oder sie bereits gelesen hat, dann die herzliche Einladung, dass wir uns in den Kommentaren oder per Mail darüber austauschen.
Ich hoffe der erste Eindruck verliert seinen Schein und der Bezug zum Lebensrecht wird aus den paar Zitaten und Worten, die im Folgenden erwähnt werden, deutlich.
Franz Kafka – Die Verwandlung1
„Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er lag auf seinem panzerartig harten Rücken und sah, wenn er den Kopf ein wenig hob, seinen gewölbten, braunen, von bogenförmigen Versteifungen geteilten Bauch, auf dessen Höhe sich die Bettdecke, zum gänzlichen Niedergleiten bereit, kaum noch erhalten konnte. Seine vielen, im Vergleich zu seinem sonstigen Umfang kläglich dünnen Beine flimmerten ihm hilflos vor den Augen.
‘Was ist mit mir geschehen?‘ dachte er.“2
Sehr interessant sind Gregors Beziehung, die sich in unterschiedlicher Weise zu den jeweiligen Familienmitgliedern ausprägen. So ist es z.B. der Vater, der ihm generell feindselig gegenübersteht und seinem Kind eine tödliche Wunde zufügt. Gregor selbst klagt zu Beginn des Stücks, dass in seinem Beruf als Handelsreisender ein „nie herzlich werdender menschlicher Verkehr“3 herrscht und er fühlt sich in seiner neuen Gestalt als Ungeziefer jetzt nutzlos.4 Seine größte Sorge ist das Wohl seiner Familie und wie sehr sie nun unter ihm leidet. Es bekümmert ihn wie unzumutbar er für sie ist.5 Er plagt sich bei dem Gedanken ihnen jetzt nicht (mehr) helfen zu können. Nutzen und nutzlos sein, ebenso das Motiv des Versorgens und sich versorgen lassens, kehren immer wieder.
Die Mutter ist es, die beim Ausräumen seines Zimmers, dessen Möbel er als Ungeziefer angeblich nicht bräuchte, ihren Sohn an sein Menschsein erinnert: „‘[I]st es nicht so, als ob wir [gem. ist. Gregors Familie] durch Entfernung der Möbel zeigten, dass wir jede Hoffnung auf Besserung aufgeben und ihn rücksichtslos sich selbst überlassen?‘ […] Beim Anhören dieser Worte der Mutter erkannte Gregor, dass der Mangel jeder unmittelbaren menschlichen Ansprache, verbunden mit dem einförmigen Leben inmitten der Familie […] seinen Verstand hatte verwirren müssen […]. Hatte er wirklich Lust, das warme, mit ererbten Möbeln gemütlich ausgestattete Zimmer in eine Höhle verwandeln zu lassen, in der er dann freilich nach allen Richtungen ungestört würde kriechen können, jedoch auch unter gleichzeitigem, schnellen, gänzlichen Vergessen seiner menschlichen Vergangenheit? War er doch jetzt schon nahe daran, zu vergessen, und nur die seit Langem nicht gehörte Stimme der Mutter hatte ihn aufgerüttelt.“6
Die anfänglich sehr zugeneigte, doch später feindselige Schwester ist es, die von ihrem Bruder gegen Ende als von einem „Es“ spricht: „‚Ich will vor diesem Untier nicht den Namen meines Bruders aussprechen, und sage daher bloß wir müssen versuchen, es loszuwerden. Wir haben das Menschenmögliche versucht, es zu pflegen und zu dulden, ich glaube, es kann uns niemand den geringsten Vorwurf machen.‘ […] ‚Weg muss es‘, rief die Schwester, das ist das einzige Mittel, Vater. Du musst bloß den Gedanken loszuwerden suchen, dass es Gregor ist. Das wir es so lange geglaubt haben, das ist ja unser eingentliches Unglück. Aber wie kann es denn Gregor sein? Wenn es Gregor wäre, er hätte längst eingesehen, dass ein Zusammenleben von Menschen mit einem solchen Tier nicht möglich ist, und wäre freiwillig gegangen.'“7
Ebenfalls nachdenkenswert ist die Rolle der Außenwelt bzw. der Gesellschaft, die in den Personen des Prokuristen und drei männlichen Untermietern in der Wohnung der Samsa’s zu Beginn und am Ende von Kafka’s Werk, die Bühne betreten. Erst durch die externen Personen wird die Familie darauf aufmerksam, dass mit ihrem Gregor etwas nicht stimmt. Erst durch die Gesellschaft (der drei Männer gegen Ende) reift der Entschluss das Familienmitglied loswerden zu wollen.
Außerdem ist es beim lesen sehr spannend auf die Namen, die die jeweiligen Akteure haben bzw. nicht haben, zu achten.
Viel Freude beim lesen bzw. hören.
Max Frisch – Biedermann und die Brandstifter
Wohl etwas weniger bekannt als Kafka, aber ebenfalls ein äußersts starkes Werk, das Frisch „1948 unter dem Eindruck der Machtübernahme der Kommunisten in der Tschechoslowakei„8 bereits als erste Skizzen formulierte. Frisch schreibt es dann jedoch so, dass es die allgemein greifenden Machanismen und gesellschaftlich, menschlichen Schwächen offenlegt, die einer Ideologie steigbügelhaltend zu Macht und Einfluss verhelfen.
Ich bin auf das Stück in dem kleinen Flyer „Auf der Suche nach Wahrheit„9 aufmerksam geworden und zitiere euch die Einleitung daraus. Vielleicht packt sie euch ja genauso wie mich und ihr beginnt auch mit der Suche:
„Seit über 50 Jahren ist etwas bei mir abrufbereit eingespeichert – das Drama von Max Frisch: Biedermann und die Brandstifter. Darin wird ungewöhnlich klar unsere persönliche Schwäche beleuchtet, die Vergangenheit unseres Volkes und vorausschauend die heutige Gefährdung Europas. Der Inhalt in Kurzfassung: Allerorts wird nach Brandstiftern gefahndet, die bereits verheerende Schäden angerichtet haben. Die ganze Gegend lebt in Angst und Unsicherheit. Eines Tages schellen sie an Biedermanns Tür. Der Hausherr reagiert höchst alarmiert und schöpft sofort Verdacht. Aber weil man Misstrauen nicht gleich zeigen und an das Gute im Menschen glauben soll, öffnet er sein Haus und führt Gespräche, selbst noch, als die Benzinkanister herbei geschafft sind. Wider besseres Wissen und gegen sein Gewissen drückt er schließlich den Brandstiftern als letzten Vertrauensbeweis die Streichhölzer in die Hand – eigentlich sind sie doch ganz nette Leute! Warum blieb ausgerechnet diese Geschichte bei mir hängen? Vielleicht weil ich zu der Generation gehöre, die versuchen wollte, eine Erklärung dafür zu finden, warum sich ein gebildetes, kultiviertes Volk mit einer Vielzahl von akademischen und kirchlichen Würdenträgern verblenden ließ, einem Pseudomessias zu glauben und treu bis in den Tod zu folgen. Intelligenz, Kultur, christliche Erziehung hatten sich nicht als ausreichende Schutzfaktoren erwiesen. Das millionenfach gewünschte ‚Heil‘ bedeutete Mord und Tod von Millionen.“
Übrigens: Im September war das 30. Jubiläum der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo (ICPD) auf der die sog. „sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte“ installiert worden sein sollen. Wer dazu mehr wissen will, der klicke gern —> hier <— und —> hier <—.
Lest Frisch’s Biedermann und die Brandstifter einfach selbst, das ist an einem Abend machbar, und zieht eure Schlüsse. Auf den Austausch in den Kommentaren freue ich mich!
Quellen:
- Die Verwandlung Kafka – Zusammenfassung: https://www.youtube.com/watch?v=kjBbn97SXxo; Franz Kafka: Die Verwandlung – gelesen von Ulrich Matthes: https://www.youtube.com/watch?v=lLndNFadXN0 ↩︎
- Franz Kafka, die Verwandlung, 187. Hamburger Leseheft, Hamburger Leseheft Verlag, S. 5. ↩︎
- ebd. ↩︎
- Siehe S. 8 Zeile 22 sowie S. 12 Zeile 29. ↩︎
- Unter dem Kanapee in sein Zimmer verkrochen, verbrachte er die ganze Nacht „zum Teil im Halbschlaf aus dem ihm der Hunger immer wieder aufsreckte, […] zum Teil aber in Sorgen und undeutlichen Hoffnungen, die aber alle zu dem Schlusse führten, dass er sich vorläufig ruhig verhalten und durch Geduld und größte Rücksichtnahme der Familie die Unannehmlichkeiten erträglich machen müsse, die er ihr in seinem gegenwärtigen Zustand nun einmal zu verursachen gewzungen war.“ Ebd., S. 21. Man bedenke die Wortwahl und Schuldverteilung. ↩︎
- ebd., S. 30. ↩︎
- ebd., 44f. ↩︎
- https://de.wikipedia.org/wiki/Biedermann_und_die_Brandstifter, zuletzt aufgerufen am 09.10.2024 ↩︎
- Auf der Suche nach Wahrheit Aus dem Labyrinth der Meinungen in die Freiheit, S. Joela Krüger, Verlag Evangelische Marienschwesternschaft e.V., 2013, https://kanaan.org/wp-content/uploads/2020/05/SJ15_Auf-der-Suche-nach-Wahrheit.pdf ↩︎
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