Spätestens seit Charles Darwin ist der Mensch ein Tier. Definitiv. Kein Zweifel? Begierig griffen u.a. Nietzsche und Thomas Robert Malthus Darwins Evolutionstheorie auf und entwickelten sie spezifisch ihrem Interessengebiet weiter. Jetzt war der Mensch das „psychisch kranke Tier“ (Nietzsche), dass sich „zu oft und zu schnell für den Planeten vermehrt“ (Malthus).
Spätestens seit Nietzsche denken wir den Menschen ohne metaphysisches Brimborium. Also ohne etwas, das außerhalb der Materiellen Welt liegen könnte. Und auch spätestens seit Nietzsche meinen wir definitiv zu wissen, dass Gott tot sei. Der nunmehr tote Friedrich hat damals den Tod Gottes in aller Konsequenz durchdacht. Bravourös. Für uns heute bedeutet dies in der Konsequenz, dass wir uns auf niemanden berufen können, der uns unseren besonderen Status in der Welt gegeben hätte. „Krone der Schöpfung? Was ist Schöpfung?“ Der Mensch hat dabei jedoch sein „Du“, sein Gegenüber, verloren. Wie soll er nun zum „Ich“ werden? Wie zu sich selbst finden? Definiert der Mensch sich selbst?
Sind wir das Tier unter den Tieren? Scheinbar das arroganteste. Und gleichzeitig so blind, dass wir uns nur mit Hilfe von Speziesismus über der Ursuppe halten können? Sind wir nicht alle gleich? Alles Tiere? Wir aber maßen uns an von Wahrheit und Lüge, von Gut und Böse und von Moral zu sprechen. Sie zu definieren. Und mit deren Hilfe konnten wir uns schließlich über unsere Brüder und Schwestern erheben und sie nur aufgrund ihrer Artzugehörigkeit moralisch diskriminieren, sie zu niedereren Tieren degradieren und uns als Krone der Schöpfung aufspielen. Oder sind wir lediglich höhere Säugetiere? Sind wir der Homo Deus, Herr Harari?
Aber schon dieses „wir“! Sind wir nicht alle Teil eines evolutionären Flusses? Grenzenlos zwischen den Arten? Ist nicht alles in Bewegung? Fluide? Meine sehr geehrten höheren Säugetiere: Alles tanzt. Nichts steht mehr.
Was ist der Mensch?
Blickwechsel: “Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der gestirnte Himmel über mir und die embryonale Entwicklung in ihr.“ Zugegeben, das ist etwas kantig formuliert.
Wenn ich sehe wie wunderbar die Zeugung des Menschen abläuft – wunderbar im Sinne von Wunder – dann gerate ich in Staunen. Ein Feuerwerk gleich zu Beginn. Alles ist perfekt angelegt. Alles harmoniert, baut aufeinander auf, hängt voneinander ab. Eines der beeindruckendsten Beschreibungen dieses Wunders fand ich bei Rohen und Lütjen-Drecoll in einem Embryologielehrbuch wie folgt formuliert:„Sie [die Zygote] ist der Ursprung des neuen Individuums, in dem alles (potenziell) enthalten ist, was den späteren Organismus ausmacht. Es kommt nichts mehr hinzu. Die Zygote ist damit (funktionell) bereits das Ganze. Die weitere Entwicklung vollzieht sich damit immer vom Ganzen in die Teile und nicht durch Addition von Einzelteilen […]. Auch wenn sich an der Zygote noch nichts ‚Menschliches‘ (äußerlich) erkennen, lässt, ist das Ganze bereits (funktionell) präsent und zeigt schon in den ersten Entwicklungsschritten seine gewaltigen Potenzen.”1 Alles ist da. Der Mensch ist fertig. Von Anfang an. Er muss sich nur noch in ihr, seiner Mutter, und damit in Zeit und Raum entfalten.
Wenn ein Student bei der Betrachtung der ersten menschlichen Zelle (der Zygote) unter dem Mikroskop nicht in der Lage wäre, die Zahl, die Form und die Struktur dieser Chromosomen zu erkennen, wenn er nicht mit Sicherheit sagen könnte, ob sie von einem Schimpansen oder einem Menschen stammen, dann würde er die Prüfung nicht bestehen. So haben wir’s mal in einem unserer Beiträge zitiert. Aber beweist das schon was der Mensch ist? Es sagt doch nur, dass er einen anderen Chromosomensatz besitzt. Werden Tiere nicht auf ebenso wunderbare Weise gezeugt? Entwickeln sie sich nicht ebenso meisterhaft von einer Zelle zum ausgewachsenen Exemplar? Wo soll also der Unterschied liegen? Worin soll sich die Sonderrolle des Menschen begründen? Gilt nicht auch gleiches für Tiere? Ist nicht auch hier alles harmonisch aufeinander abgestimmt? Warum soll nur die Entwicklung des Menschen erstaunlich und atemberaubend sein? „Arroganter Zweibeiner, der sich für was Besseres hält!“…?
Offen gesagt: so atemberaubend wie die menschliche Entwicklung ist, sie erklärt seinen „vermeintlichen“ Sonderstatus, seine Menschenwürde, auf der Erde nicht! So Intelligent, so kreativ, so stark, so faszinierend, so was auch immer der Mensch zu sein scheint: Wir finden diese Aspekte auch, und zu großen Teilen sogar noch ausgeprägter, in der Tierwelt.
Müssten wir an diesem Punkt nicht zweifach ehrlich werden? Dass erstens allein die Niedlichkeit eines Babys, die Intelligenz des Menschen und die Faszination seiner Entwicklung als Mensch von Anfang an nicht reicht? Und zweitens: Wollen wir die Begründung der menschlichen Sonderrolle, das Verbot seiner Tötung, wirklich der Zeit überlassen? Ist der Embryo erst bzw. schon ein vollwertiger, geschützter Mensch wenn sein Herz schlägt? Ist er’s ab der sechsten, zwölften, 21. Schwangerschaftswoche? Wenn er eigenständig lebensfähig ist? Wächst sein Recht auf Leben in Stufen?
Denken wir hier etwa einen nebulösen Übergang vom Werden ins Sein? Läuft unter der mütterlichen Bauchdecke die Evolution noch einmal ab?: Vom befruchteten Ei(n)zeller entwickelt sich das Lebewesen zum fertigen Menschen? Greift das Ja oder das Nein auf diese Frage zu kurz? Warum haben wir die biogenetische Grundregel von Ernst Haeckel verabschiedet? Warum hört die Evolution bei uns erwachsenen Exemplaren auf? Wer gibt uns denn das Recht eines Tötungsverbots?
Ist die Frage nach dem Beginn der Menschwerdung (oder moderner ausgdrückt: Personwerdung) nicht eine Flucht vor der eigentlichen Frage? Eine Feilschen, um im wahrsten Sinne Zeit zu gewinnen? Ein auf die lange Bank schieben? Die Frage unbeantwortet lassen und zu den Akten legen? Bei der eigentlichen Frage geht es nicht um das werdende Sein des Menschen, sondern sein schon immer Seiendes. Wieder zun kantig? Oder unbegreiflich?
Was ist der Mensch?
Kann man das von außen, kann man das auf materieller, empirischer Ebene überhaupt feststellen? Begreifen? Würde das bedeuten, dass wir gedankliche Einschränkungen haben? Kurzsichtig geworden sind? Blind? Orientierungslos?
Es beschleicht mich der Gedanke, als habe Nietzsche, der in der fröhlichen Wissenschaft den Horizont wegwischte, auch gleich unserem inneren Kompass den Norden genommen. Nun dreht sich die Nadel unentwegt. Im Kreis. Wir befinden uns im fortwährenden Aushandlungsprozess. Müssen alles neu ausrichten. Immer und immer wieder. Während sich doch alles dreht. Oder drehen wir uns? Nichts kann sich mehr in Ruhe ausrichten. In welche Richtung soll es denn gehen? Rechts? Links? Vorwärts? Rückwärts? Fortschritt? Rückschritt? Du oder Ich? Mann oder Frau? Alles oder Nichts? Kein Norden darf mehr „Sein“, sondern er muss immer wieder neu „werden“.
Nach Nietzsche kamen später Menschen wie Peter Singer und Judith Butler, die auch die Kompassnadel heraus gebrochen haben. Aber was blieb? Eine leere Hülle? Materie ohne Inhalt? Ohne Kern? Ohne Wesen? Ohne Sinn? Ohne Ziel? Und ohne Wert? Nichts!
Was also ist der Mensch?
Und welche Konsequenzen hat die jeweilige Antwort?
Klären wir jedoch diese Frage, dann darf ich hoffen. Dann kann ich wissen. Dann weis ich, was ich tun soll.
Haben wir den Mut diese Frage nicht als moralische Ansichts- oder Geschmackssache abzutun. Der Mensch ist weder eine Urlaubskarte noch Erdbeereis.
Quellen:
1: Rohen & Lütjen-Drecoll, Funktionelle Embryologie, Georg Thieme Verlag KG, 6. Auflage, 2022, S. 22; Vgl. https://youngandfree-kaleb.de/am-anfang-gibt-es-bereits-das-ganze/.
Bildquellen:
Mann schwebt: https://unsplash.com/photos/silhouette-on-floating-man-eY7ioRbk2sY?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
Mensch_Maske: https://unsplash.com/photos/male-mannequin-m9d8W67TXDI?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
Titelbild: https://unsplash.com/photos/person-covering-the-eyes-of-woman-on-dark-room-_dVxl4eE1rk?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
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