Laurie Ann Paul beschreibt in ihrem kleinen Büchlein „Was können wir wissen bevor wir uns entscheiden?“ ein interessantes Gedankenexperiment von Fank Jackson. Dies handelt von der „schwarz-weiß Mary“. Mary sei eine herausragende Neurowissenschaftlerin jedoch seit ihrer Geburt in einer farblosen Zelle eingeschlossen. Sie hätte noch nie in ihrem Leben irgendeine Farbempfindung gehabt. „Nun kennt sie zwar alle Tatsachen einer vollständigen Physik (und anderer Wissenschaften), einschließlich aller kausalen und relationalen Tatsachen und funktionalen Rollen, die sich aus der Kenntnis dieser Tatsachen ergeben, einschließlich aller wissenschaftlicher Fakten über Licht, der Reaktion des menschlichen Auges auf Licht mit Wellenlängen zwischen 600 und 800 Nanometern und aller relevanten Neurwissenschaften.“1
Mary weiß theoretisch alles. Doch sie weiß nicht, wie es sich anfühlt die Farbe Rot mit eigenen Augen zu sehen. Paul argumentiert, dass Mary, trotz ihres vollumfänglichen, theoretischen Wissens, etwas ganz Entscheidendes fehle: Das Wissen, das wir erhalten wenn wir Dinge er- und durchleben.
Szenenwechsel: „Es scheint ganz natürlich, dass man bei der Frage, ob man sich für oder gegen ein Kind entscheidet darüber nachdenkt, wie es sein würde, ein Kind zu haben.“2
In Laurie Ann Paul’s „Was können wir wissen bevor wir uns entscheiden?“ heißt es dann, anlehnend an dem genannten Beispiel von Mary: „Im Gegensatz zur landläufigen Meinung und zum gesunden Menschenverstand, im Gegensatz auch dazu, was Ihre Eltern Ihnen möglicherweise sagen, und im Gegensatz zu dem idylischen Ideal, das von vielen Groschenromanen, populären Leitfäden für Eltern, Lebensberater-Websites und Modezeitschriften romantisiert wird, können Sie sich nicht rational dafür entscheiden, ein Kind zu bekommen, sollte diese Entscheidung darauf gegründet sein, wie Sie darüber denken, dass es sich anfühlen wird ein Kind zu haben.“3 Wir können es nicht wissen.
Paul meint weiter: „[b]evor Verhütungsmittel allgemein verfügbar waren, entschied man sich nicht dafür, ein Kind auf der Grundlage dessen zu bekommen, dass man sich vorstellte, wie es sich anfühlen würde. Häufig hatte man am Ende eben einfach ein Kind.“4 Sie vermutet, „dass die verbreitete Auffassung dessen, wie man entscheiden sollte, ein Kind zu haben, auf einem zeitgenössischen Ideal der persönlichen psychischen Entwicklung durch Entscheidungen fußt. Eine moderne Aufassung von Selbstverwirklichung umfasst die Vorstellung, dass man eine bestimmte Art von maximaler Selbsterfüllung dadurch erreicht, dass man reflektierte, rationale Entscheidungen darüber trifft, welche Person man sein will. (Die Rhetorik der Debatte um Abtreibung und medizinische Fortschritte bei Verhütungstechnicken haben wahrscheinlich dazu beigetragen, ein Kind zu bekommen als persönliche Entscheidung zu verstehen.) Während die Vorstellung persönlicher Erfüllung und Selbstverwirklichung durch reflektierte Wahl dafür angemessen sein mögen, ob man sich dafür entscheidet, sein eigenes Gemüse anzubauen, welche Musik man hört oder man Yoga macht, sind sie für die Entscheidung, ein Kind zu bekommen, nicht geeignet.“5
Und damit wären wir bei der Krux. Hier entsteht der Konflikt, womöglich auch der Schwangerschaftskonflikt: Die Art und Weise wie wir uns heute für oder gegen ein Kind entscheiden sollten, ist eine der Selbstverwirklichung. Damit ist es eine reflektierter und rationaler Entscheidungsprozess. Ein Kind zu bekommen verändert nicht nur unser Denken, unsere Ratio,, die Sicht der Dinge, sondern es ist auch ein persönlich transformatives Erlebnis. Wie es ist ein Kind zu bekommen/haben geht über unseren Verstand hinaus, es verändert unser Selbst, verändert uns persönlich. Deswegen könnten wir, so Paul’s Meinung, in dieser Situation nicht rational und reflektiert entscheiden. Denn, wenn das Ergebnis unserer Entscheidung uns persönlich verändert, können wir uns im Entscheidungsprozess nicht an gewöhnliche oder „gängige“ Normen für rationale Entscheidungsprozesse6 halten, so L.A. Paul.7
„Das bedeutet, dass die subjektive Unvorhersehbarkeit, die mit der Tatsache einhergeht, das erste Kind zu bekommen, das Märchen der Familienplanung zu wenig mehr als einer angenehmen Fiktion macht.“8
„Verallgemeinernd kann man“ laut Paul sagen, dass wir „unser gewöhnliches, auf Erlebnissen basierendes normatives Entscheidungsverfahren nicht anwenden können, um eine der größten Entscheidungen [unseres] Lebens zu treffen.“ Wir können diese Entscheidungsprozesse weder anwenden, um uns rational dafür zu entscheiden, ein Kind zu bekommen, noch um uns rational dagegen und für eine Abtreibung zu entscheiden.9 Paul’s „Ansicht lautet [deswegen] einfach, dass Sie ehrlich gegenüber sich selbst im Hinblick auf die Grundlage dieser Wahl sein müssen.“10
Wir können die Erfahrung einer Abtreibung nicht mit einer normalen medizinischen Vorsorgung oder Dienstleistung wie mit Gebärmutterhals-Screening oder Mutterschaftsvorsorge gleichsetzen, wie es z.B. die Dachorganisation von Pro Familie, die IPPF tat.11 Außerdem ist das Kind im Schwangerschaftskonflikt schon da. Das verschiebt die Entscheidung noch einmal gravierend. Es braucht Beratung und Hilfe. Authentische Erfahrungsberichte, offene Ohren und viele Gespräche, um in diesem Entscheidungsprozess ehrlich zu uns selbst, mit anderen und gegenüber dem Kind sein zu können.
Quellen: Bilder: Titelbild: https://unsplash.com/de/fotos/eine-frau-die-einen-rontgenstrahl-ihres-bauches-hochhalt-fXSJIpKQ0sI?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Ultraschall: https://unsplash.com/de/fotos/eine-frau-die-einen-rontgenstrahl-ihres-bauches-hochhalt-fXSJIpKQ0sI?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
1 S. 21
2 S. 9
3 S. 56
4 S. 56
5 S. 57, Hervorheb. d. Autors.
6 Was sind gewöhnliche Entscheidungsprozesse?
7 Siehe S. 36
8 S. 34
9 Siehe S. 35
10 S. 58
11 Die IPPF hatte in ihrem „IPPF EN partner survey: Abortion legislation and its implementation in Europe and Central Asia“ ((IPPF Partnerumfrage: Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch und ihre Umsetzung in Europa und Zentralasien), 9 January 2020, https://www.europe.ippf.org/resource/ippf-en-partner-survey-abortion-legislation-and-its-implementation-europe-and-central-asia., Zuletzt aufgerufen am 21.11.2024.) eine Passage aus dem General comment No. 22 (CESCR, 2016) so uminterpretiert, dass in deren Text Abtreibung gleichbedeutend mit Gebärmutterhals-Screening, Verhütung und Mutterschaftsvorsorge wurde. Das Zitat im IPPF survey entstammt: CESCR in General Comment No. 22, 2016, Punkt 28; Die Interpration der IPPF siehe Fn. 22, S. 6, linke Spalte: „Moreover, governments have a duty to ‚liberalize restrictive abortion laws; to guarantee women and girls access to safe abortion services and quality post-abortion care, including by training healthcare providers; and to respect the right of women to make autonomous decisions about their Sexual and Reproductive Health (SRH).‘ [Zitat Ende General Comment No. 22, 2016] This situates abortion as an integral and essential element of reproductive health, no different from cervical screening, contraception and maternity care.“ Hevorheb. d. Autors; Deutsch: „Damit wird der Schwangerschaftsabbruch als integraler und wesentlicher Bestandteil der reproduktiven Gesundheit betrachtet, der sich nicht von Gebärmutterhalsscreening, Empfängnisverhütung und Mutterschaftsvorsorge unterscheidet.“ (Übersetzt mit DeepL.com).
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