Jeder Mensch hat ihn. Aber keiner weiß mehr so richtig was mit ihm anzufangen. Die Rede ist von der Stelle, „mittig auf der Vorderseite des Bauchs, an der während der Schwangerschaft beim Heranwachsen im Mutterleib die Nabelschnur herausgewachsen ist, die über die Plazenta die für das Leben und Wachstum notwendigen Stoffe mit dem Blutkreislauf der Mutter aus[ge]tauscht“ hat.1 Der Bauchnabel. Bingo. Nach der Geburt erfüllt der Nabel eigentlich keine körperliche Funktion mehr. Aber vielleicht ist es ja gerade seine vorgeburtliche Aufgabe, an die er uns als letzter Zeuge „der körperlichen Verbundenheit zwischen Baby und Mutter“2 erinnern kann. Aber reicht die Schnur nur bis zur Mutter? Könnte es nicht sein, dass die Nabelschnur des Menschen nicht noch viel weiter reicht?
Man braucht gar nicht so weit, so verrückt und so fundamentalistisch wie z.B. zur Evolutionstheorie zu denken. Aber, na klar, auch bei diesem Erklärungsversuch muss es irgendwann mal einen Menschen gegeben haben, der den ersten Bauchnabel der Menscheitsgeschichte trug. Das bedeutet gleichzeitig, dass es vor ihm mindestens ein menschliches Elternpaar gegeben haben muss, in dessen besserer, gebärfähigen Hälfte, manche nennen sie ja Mutter, sich der bauchnabelige Mensch befunden haben und mit dem er per Nabelschnur verbunden gewesen sein muss. Seitdem nun diese Geschichte der Menscheit begann, hatte der Mensch fortan immer einen Bauchnabel. Seit Anfang an ist er als Einzelner, der Mensch, mit dem ganzen Menschengeschlecht verbunden.
Nur kurze Abschweifung: Ach, Artikel sind schon was feines. Sie könnten uns auch helfen, wenn wir sie denn ernst nähmen, z.B. Judith Butlers Ansatz in der Gendertheorie an ein gesundes, nachvollziehbares Ziel zu führen. Wen’s interessiert, das haben wir u.a. in „Also sprach Judith Butler: parodiert euch!“ in der Zusammenfassung versucht.
Zurück zum Nabel des Menschengeschlechts. Wir wollen an der Stelle mal einen Gedanken von Sören Kierkegaard aufgreifen und das Zitat erst mal in voller Länge laufen lassen. Wichtige Stellen heben wir dabei aber schon mal hervor. Durchhalten. Wir sprechen hinterher darüber:
„In jedem Augenblick ist es so, daß das Individuum es selbst und das Geschlecht ist. Das ist des Menschen Vollkommenheit, gesehen als Zustand. Zugleich ist dies ein Widerspruch; aber ein Widerspruch ist immer Ausdruck einer Aufgabe; eine Aufgabe aber ist Bewegung; eine Bewegung aber, hin zu demselben als Aufgabe, die als dasselbe aufgegeben war, ist eine historische Bewegung. Also hat das Individuum Geschichte; hat aber das Individuum Geschichte, so hat das Geschlecht diese auch. Jedes Individuum hat diesselbe Vollkommenheit, gerade deshalb fallen die Individuen nicht numerisch auseinander, ebensowenig wie der Begriff des Geschlechtes ein Phantom wird. Jedes Individuum ist wesentlich interessiert an der Geschichte aller andern Individuen, ja ebenso wesentlich wie an seiner eigenen. Die Vollendetheit in sich selbst ist deshalb die vollkommene Anteilnahme an dem Ganzen. Kein Individuum ist gleichgültig gegen die Geschichte des Geschlechts, ebensowenig wie das Geschlecht gegen die irgendeines Individuums. Indem des Geschlechts Geschichte vorangeht, beginnt das Individuum beständig von vorne, weil es es selbst und das Geschlecht ist, und darum wiederum des Geschlechtes Geschichte.“3
Okay, ich werde nicht jeden Punkt beleuchten. Manches ergänzt sich. Über manches denkt ihr vielleicht anders, was mich übrigens sehr interessieren würde.
Des Menschen Vollkommenheit besteht darin, dass er gleichzeitig das Individuum und das ganze Menschengeschlecht ist. Verrückt, oder? Aber macht Sinn. Der Satz „Wer ein Leben rettet, rettet die ganze Welt“ ist ein Ausdruck dafür. Interessanterweise ist dieser Satz der Titel von Dagmar Fohl’s Roman über Oskar Schindler. Auch der Film „One Life“ war mit fast identischer Aussage unterschrieben.4 In beiden Biographien wurden Menschen, Juden, vor dem Holocaust der Nazi’s gerettet, weil die Protagonisten Oscar Schindler und Nicholas Winton nicht zulassen wollten, dass das Individuum ins Numerische verfällt5
Jedes Individuum ist wesentlich interessiert an der Geschichte aller andern Individuen, ja ebenso wesentlich wie an seiner eigenen und gleichzeitig gilt, dass kein Individuum gleichgültig gegen die Geschichte des ganzen Geschlechts ist, ebensowenig wie das Geschlecht gegen die irgendeines Individuums.6 Oder verkürzt: Einer für Alle und Alle für Einen. Wenn es gilt, dass der Mensch sowohl das Individuum und das Menschengeschlecht bedeutet, dann frage ich mich welche Botschaft wir an die Menschheit senden wenn wir den Menschen abtreiben. Wenn wir den Menschen (jetzt) nicht wollen? Wenn wir den Menschen absaugen? Damit endet die Geschichte. In jeglicher Hinsicht. Tod.
Abschließende Gedanken
Was geschieht wenn der Mensch nach uns herausfindet wie wir über ihn gedacht haben? Gedacht, dass er noch kein Mensch war, sich erst entwickeln müsste. Gedacht, dass er noch keinen Personenstatus und den damit verbundenen menschenrechtlichen Schutz hatte. Der Mensch, das Objekt einer isolierten individuellen Entscheidung. Eine Entscheidung bei der wir als Gesellschaft weg geschaut und sie als Selbstbestimmung gepriesen haben. Was passiert wenn der Mensch nach uns heraus findet, dass wir später uns ihm aufbürden uns auf seinen Schultern zu tragen. Weil wir alt und schwach geworden sind. Aber was wenn er begreift, dass wir es waren, denen die neuen, auf den Schultern sitzenden Mäuler zu viel gewesen waren, dass wir sie nicht stopfen wollten weil wir Angst hatten es könnte für uns nicht mehr reichen? Was wenn er herausfindet, dass wir des Menschen Brüder und Schwestern den Eintritt in die Welt verwehrt haben? Ihnen die Sonne niemals aufgehen ließen? Was wenn der Mensch nach uns schon die nächste Generation ist?
Wird er es uns mit gleicher Münze heimzahlen? Wird der Mensch uns zu Objekten seiner individuellen Entscheidung machen? Wird seine Gesellschaft gleich der unseren weg schauen? Was wenn der Mensch unsere Mäuler nicht stopfen will? Aus Angst, dass es nicht reicht? Wird er vergessen, dass wir Menschen sind? Es zumindest einmal waren? Oder bitten wir um Vergebung? Kann der Mensch uns überhaupt verzeihen? Wird er die Kraft dazu finden?
Das nächste Mal wenn du deinen Bauchnabel siehst, die Narbe berührst, die dich mit deiner Mutter und mit der ganzen Menschheit verbindet, denke daran: Des Menschen Vollkommenheit, dass er gleichzeitig das Individuum und das ganze Menschengeschlecht ist denn jedes Individuum ist wesentlich interessiert an der Geschichte aller andern Individuen, ja ebenso wesentlich wie an seiner eigenen und gleichzeitig gilt, dass kein Individuum gleichgültig gegen die Geschichte des Geschlechts ist, ebensowenig wie das Geschlecht gegen die irgendeines Individuums.7
Wie vollkommen sind wir Menschen? Wie vollkommen ist der Mensch?
Quellen: Schwangere_Bauch: https://unsplash.com/de/fotos/frau-steht-in-der-nahe-von-grunen-blattpflanzen-k4CxGJg-nsA?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Baby: https://unsplash.com/de/fotos/baby-in-weissem-und-rosa-blumenonesie-dk9sZJp6X5Q?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Frau_gelbes_Shirt_Piercing: https://unsplash.com/de/fotos/frau-tragt-gelbes-rohrenoberteil-U2TP4-H8ly4?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash
1 https://de.wikipedia.org/wiki/Bauchnabel, zuletzt aufgerufen am 11.12.2024.
2 https://www.beautymax.de/lexikon-schoenheit/bauchnabel/, zuletzt aufgerufen am 11.12.2024.
3 Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Frankfurt am Main, Syndikat, 1984, EVA Band 21, S. 29.
4 Siehe https://www.filmstarts.de/kritiken/286437.html, zuletzt aufgerufen am 11.12.2024.
5 Siehe „Häflingsnummer“ in https://de.wikipedia.org/wiki/Kennzeichnung_der_H%C3%A4ftlinge_in_den_Konzentrationslagern, zuletzt aufgerufen am 11.12.2024.
6 Vgl. Sören Kierkegaard, Der Begriff Angst, Frankfurt am Main, Syndikat, 1984, EVA Band 21, S. 29.
7 Vgl. ebd.
Schreibe einen Kommentar