Früher war mal mehr Menschenwürde. Heute muss alles irgendwie fortschrittlich1 sein. Fort mit der Unantastbarkeit. Jetzt wird abgewogen. Menetekel. Müssen wir bloß noch den für zu leicht Befundenen aufspüren. Aber erstmal der Reihe nach. Schritt für Schritt. Frau Brosius-Gersdorf gibt uns einen kleinen Insight, wie die Gewichtsklassen ihrer Meinung nach so verteilt sind. Sie ist als Kandidatin für das Bundesverfassungsgericht längst zurück getreten. Aber ihr Schrifttum kann als anschauliches Beispiel dienen.
Der nächste Präzedenzfall
Sowohl in ihrem Festschrift Beitrag2, als auch im Kommissionsbericht3, berichtet Brosius-Gersdorf, dass „[d]ie jüngere Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts […] sich möglicherweise so deuten [lässt], dass es von dem Dogma der Unabwägbarkeit des Art. 1 Abs. 1 GG auch in anderen Fällen als dem Schwangerschaftsabbruch abgerückt ist.“4 Dieser ‚andere Fall‘ bezieht sich auf staatliche Zugriffe bei personenbezogenen Daten. Hier sieht man es als unvermeidbar an, die Daten zu sichten bevor man überhaupt weiß, ob sie auch gefährlichen Inhalts sind. Ihre ganze Herleitung könnt ihr auf den Seiten 184-185 im besagten Kommissionsbericht5 lesen. In der Festschrift für Horst Dreier sieht sie in dieser Rechtsprechung die Ablösung des Bundesverfassungsgerichts „von der Vorstellung einer absolut geltenden Menschenwürde, also von der Nichtabwägungsfähigkeit des Art. 1 I GG.“ und damit rüttelt das Gericht „implizit am absoluten Schutz der Menschenwürdegarantie.“6
Wenn also jetzt schon die Sichtung personenbezogener Daten den Schritt für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs dienen soll, wofür dient dann die Legalisierung? Hangeln wir uns von einem Präzedenzfall zum nächsten?
Hier wird doch Jemand angetastet, richtig?
„Art. 1 Abs. 1 GG ist nach der […] Objektformel nur verletzt, wenn der Einzelne zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt wird. Ob und unter welchen Voraussetzungen diese Objektformel auch zur Anwendung kommt, wenn Übergriffe auf Grundrechte nicht vom Staat, sondern von einem Grundrechtsträger (hier: der Schwangeren) ausgehen, ist nicht geklärt. In jedem Fall dürfte eine Objektivierung nur in Betracht kommen, wenn die Subjektqualität des Menschen prinzipiell infrage gestellt wird, etwa indem als „lebenswert“ oder „lebensunwert“ kategorisiert wird. […] Die ‚bloße‘ Tötung eines Menschen ohne besondere, herabwürdigende Begleitumstände, die ihm seine Subjektqualität absprechen, verletzt Art. 1 Abs. 1 GG nicht. Zum Teil wird vertreten, dass der Schwangerschaftsabbruch schon deshalb keine Verletzung der Menschenwürde des Embryos/Fetus bewirkt, weil seine Tötung nicht vom Staat, sondern von der Frau ausgeht. Das Ungeborene werde bereits aus diesem Grund nicht zum Objekt staatlichen Handelns herabgewürdigt. Ungeachtet dessen ist mit der Beendigung einer Schwangerschaft durch die Frau nicht notwendig ein Unwerturteil über den Embryo/Fetus verbunden. Die Schwangerschaft wird in der Regel nicht beendet, weil der Embryo/Fetus als lebensunwert erachtet wird, sondern weil für die Frau eine Mutterschaft zu dem Zeitpunkt nicht vorstellbar ist. (Denkbar erscheint bei Annahme von Würdeschutz für den Embryo/Fetus eine Verletzung seiner Menschenwürde in Ausnahmesituationen, etwa wenn Embryonen wegen einer Behinderung generell das Lebensrecht abgesprochen wird oder bei einer Selektion von Embryonen aus Gründen des Geschlechts.)“7
Klingt ganz schön nach Pontius Pilatus.8
Da wäre noch meine Frage ob die Vergleiche des Schwangerschaftsabbruchs, der, gelinde gesagt, den Embryo ja unmittelbar betrifft, mit Gebärmutterhalsscreening, Empfängnisverhütung und Mutterschaftsvorsorge, keine Objektifizierung darstellt?9 Oder was ist mit Schwangerschaftsgewebe?10 Der Embryo als „weiter wachsende Schwangerschaft“11 vielleicht? Was ist mit Zellklumpen? Auch nicht? Okay versteh schon: „seht ihr zu!“12
Aber, Moment! Brosius-Gersdorf spricht davon, dass die „„‚bloße‘ Tötung eines Menschen ohne besondere, herabwürdigende Begleitumstände, die ihm seine Subjektqualität absprechen„13 die Unantastbare Menschenwürde nicht verletzen würde. Sie geht davon aus, dass bei einem Schwangerschaftsabbruch „Jemand“ und nicht „Etwas“ getötet wird. „Jemand“, der nicht zu einem „etwas“ herab gewürdigt wurde. Sonst würde ihrer Meinung nach der Art 1 des GG greifen. Richtig? Dann wären ja die genannten Begriffe eine Objektifizierung. Eine Antastung der Menschenwürde, oder?
Titelbild: https://unsplash.com/de/fotos/madchen-in-blauem-rot-weissem-blumenkleid-sitzt-auf-gelbem-stuhl-CseVffe9-OU?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; Junge_Feuer: https://unsplash.com/de/fotos/ein-kleiner-junge-der-neben-einem-schwarzen-lastwagen-steht-tBzbAjSkRKY?utm_content=creditShareLink&utm_medium=referral&utm_source=unsplash; alle zuletzt aufgerufen am 06.08.2025
- Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Anaconda Verlag GmbH, 2010, 2. Abhandlung 12., S. 69f., http://www.zeno.org/Philosophie/M/Nietzsche,+Friedrich/Zur+Genealogie+der+Moral/Zweite+Abhandlung%3A+%C2%BBSchuld%C2%AB,+%C2%BBSchlechtes+Gewissen%C2%AB+und+Verwandtes/11-20. „Die Größe eines »Fortschritts« bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm alles geopfert werden mußte; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Spezies Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt…“; Siehe auch https://youngandfree-kaleb.de/mehr-rueckschritt-wagen/ ↩︎
- Frauke Brosius-Gersdorf; Menschenwürdegarantie und Lebensrecht für das Ungeborene – Reformbedarf beim Schwangerschaftsabbruch; in Rechtskonflikte: Festschrift für Horst Dreier zum 70. Geburtstag; Hrsg.: Brosius-Gersdorf, Engländer, Funke, Kuch, Tschentscher und Wittreck; 2024; S. 757. ↩︎
- Frauke Brosius-Gersdorf, in Bericht der Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung, Kapitel 5, S.184, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Kom-rSF/Abschlussbericht_Kom-rSF.pdf, zuletzt aufgerufen am 05.08.2025. ↩︎
- ebd.: „Auch das Bundesverfassungsgericht hat in seiner ersten Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch die Erforderlichkeit einer Abwägung der Menschenwürde des Embryos/Fetus (Art. 1 Abs. 1 GG) mit den Grundrechten der Frau betont, wobei als gegenläufige Positionen der Frau ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) und ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zum Tragen kamen.“ ↩︎
- https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Kom-rSF/Abschlussbericht_Kom-rSF.pdf, zuletzt aufgerufen am 05.08.2025. ↩︎
- Frauke Brosius-Gersdorf; Menschenwürdegarantie und Lebensrecht für das Ungeborene – Reformbedarf beim Schwangerschaftsabbruch; in Rechtskonflikte: Festschrift für Horst Dreier zum 70. Geburtstag; Hrsg.: Brosius-Gersdorf, Engländer, Funke, Kuch, Tschentscher und Wittreck; 2024; S. 758. ↩︎
- Frauke Brosius-Gersdorf, in Bericht der Kommission zur Reproduktiven Selbstbestimmung, Kapitel 5, S.186, https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/K/Kom-rSF/Abschlussbericht_Kom-rSF.pdf. ↩︎
- „Als nun Pilatus sah, dass er nichts ausrichtete, sondern dass vielmehr ein Aufruhr entstand, nahm er Wasser und wusch sich vor der Volksmenge die Hände und sprach: Ich bin unschuldig an dem Blut dieses Gerechten; seht ihr zu!“ Die Bibel, Matthäus Evangelium, Kapitel 27, Vers 24, Schlachter 2000 Version, https://www.bibleserver.com/SLT/Matth%C3%A4us27%2C24, zuletzt aufgerufen am 05.08.2025. ↩︎
- Das Zitat im IPPF survey entstammt: CESCR in General Comment No. 22, 2016, Punkt 28; Die Interpration der IPPF siehe Fn. 22, S. 6, linke Spalte: „Moreover, governments have a duty to ‚liberalize restrictive abortion laws; to guarantee women and girls access to safe abortion services and quality post-abortion care, including by training healthcare providers; and to respect the right of women to make autonomous decisions about their Sexual and Reproductive Health (SRH).‘ [Zitat Ende General Comment No. 22, 2016] This situates abortion as an integral and essential element of reproductive health, no different from cervical screening, contraception and maternity care.“ Hevorheb. d. Autors; Deutsch: „Damit wird der Schwangerschaftsabbruch als integraler und wesentlicher Bestandteil der reproduktiven Gesundheit betrachtet, der sich nicht von Gebärmutterhalsscreening, Empfängnisverhütung und Mutterschaftsvorsorge unterscheidet.“ (Übersetzt mit DeepL.com). ↩︎
- Siehe https://youngandfree-kaleb.de/das-recht-auf-wahrheit/ zuletzt aufgerufen am 05.08.2025. ↩︎
- Dr. med. Alicia Baier, Statement ca. 17:10 Uhr, Stenografisches Protokoll der 133. Sitzung, Rechtsausschuss, Berlin, den 10. Februar 2025, 17.00 Uhr, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Saal 3.101 (Großer Anhörungssaal), Adele-Schreiber-Krieger-Straße 1, 10117 Berlin, S. 10, https://www.bundestag.de/resource/blob/1050342/4ae341057e7c53385bed5cdca3273777/a06_133_prot.pdf, zuletzt aufgerufen am 05.08.2025. ↩︎
- Siehe FN. 8. ↩︎
- Siehe FN. 7. ↩︎
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