Bevor wir heute feiern, gibt’s zum Muttertag 2023 erst mal eine kleine Ansprache. Wir dachten da an was gehaltvolles. Deswegen wird kein geringerer als der ehemalige Klassen-Lehrer der Frankfurter Schule, Max Horkheimer, ein paar Worte an uns richten:
Horkheimer hatte in seinem Aufsatz „Autorität und Familie in der Gegenwart“1 bedauert, dass die Familie ihre ursprüngliche Bedeutung und ihren natürlichen Zusammenhalt verloren hat. Aus welchen Gründen auch immer. Aber sie hat es.2 Max Horkheimer befürchtete, dass „je mehr die Abhängigkeit von der Familie zu einer rein psychologischen Funktion in der Seele des Kleinkindes reduziert wird [soll heißen, dass die Familie sich nur noch kurz abends sieht. Tagsüber ist jeder in Arbeit, Kindergarten oder Schule involviert, so dass man nur noch ‚im Kopf‘ eine Familie ‚hat‘], desto abstrakter und unbestimmter wird sie im Bewußtsein des Heranwachsenden; nicht selten entwickelt sich daraus eine allgemeine Bereitschaft, jede beliebige Autorität zu akzeptieren, wenn sie nur stark genug ist.“2
Eine nicht funktionierende Familie also, eine die nur „auf dem Papier“ existiert, ohne echte, tiefe, liebende Bindung kann – nicht nur laut Horkheimer – Nährboden für alle möglichen Farben des Faschismus werden.
Kritischer Bilderbuch-Dialektiker wie nun Horkheimer einmal einer war, kehrte er vor allem die negativen, die zu kritisierenden Seiten dieser Familienentwicklung hervor. Aber wenn wir ihn gleich etwas ausführlicher zu Wort kommen lassen, hoffen wir, dass ihr in seiner pessimistischen Sicht den Anreiz ‚zum anders machen‘ findet. Oder etwas (sonnen)blumiger ausgedrückt: Man kann mit warmen Rücken den dunklen Schatten anstarren oder man dreht sich einfach um. Aber genug der Metapher. Nun, Herr Horkheimer, bitte:
„Diese Entwicklung [siehe oben: vgl. Fussnote 2] wird durch den Wandel in der Rolle der Mutter gefördert. Nicht als ob sie das Kind härter als in früheren Zeiten behandelte; ganz im Gegenteil. Die ideale moderne Mutter plant die Erziehung ihres
Kindes nahezu wissenschaftlich, von der wohlausgewogenen Diät bis zum ebenso wohlausgewogenen Verhältnis von Lob und Tadel, wie die populärpsychologische Literatur es empfiehlt. Ihre gesamte Einstellung zum Kind wird rational; selbst die Liebe wird gehandhabt wie ein Bestandteil pädagogischer Hygiene[4]. Unsere Gesellschaft fördert in ihren gebildeten
städtischen Schichten eine ,’berufsmäßige‘, höchst praktische Einstellung sogar in jenen Frauen, die kein Geld verdienen, sondern noch ihre Rolle im Haushalt erfüllen. Sie nehmen die Mutterschaft wie einen Beruf an, und ihre Haltung den Kindern gegenüber ist sachlich und pragmatisch. Die Spontaneität der Mutter und ihre natürliche, begrenzte Fürsorge und Wärme neigen zur Auflösung. Das Bild der Mutter verliert daher im Bewußtsein der Kinder seine mystische Aura, und der Mutterkult der Erwachsenen schlägt von einer Mythologie im strengen Sinne des Wortes in eine Reihe starrer Konventionen um.
Die Frauen haben für ihre begrenzte Zulassung zur wirtschaftlichen Welt des Mannes mit der Übernahme der Verhaltensschemata einer durch und durch verdinglichten Gesellschaft gezahlt. Die Konsequenzen reichen bis in die zartesten Beziehungen zwischen Mutter und Kind hinein. Die Mutter hört auf, ein beschwichtigender Mittler zwischen dem Kind und der harten Realität zu sein, sie wird selbst noch deren Sprachrohr. Früher stattete sie das Kind mit einem Gefühl der Sicherheit aus, das ihm ein gewisses Maß an Unabhängigkeit zu entwickeln ermöglichte. Es fühlte, daß die Mutter
seine Liebe erwiderte, und irgendwie zehrte es von diesem Fundus an Gefühl sein ganzes Leben lang. Die Mutter, die von der Gemeinschaft der Männer abgeschnitten und trotz ihrer Idealisierung in eine abhängige Situation gezwungen war, repräsentierte ein anderes Prinzip als das der Realität; sie konnte wahrhaft mit ihrem Kind utopischen Träumen nachhängen, und sie war seine natürliche Verbündete, ob sie dies wünschte oder nicht. Es gab also im Leben des Kindes eine Macht, die es ihm erlaubte, zugleich mit der Anpassung an die äußere Welt seine eigene Individualität zu entwickeln. Zusammen mit dem Umstand, daß die ausschlaggebende Autorität im Hause vom Vater ausging und sich wenigstens bis zu einem gewissen Grad durch intellektuelle Vermittlung durchsetzte, verhütete die Rolle der Mutter, daß sich diese Anpassung zu plötzlich und total und auf Kosten der Individuation vollzog. Heute, wo das Kind nicht mehr die uneingeschränkte Liebe seiner Mutter erfährt, bleibt seine eigene Liebesfähigkeit unentwickelt. Das Kind unterdrückt das Kindliche in sich (was das Individuum freilich nicht daran hindert, daß es später groteske Anstalten trifft, sich wie ein Kind zu benehmen, wenn es Vergnügungen sucht) und verhält sich wie ein berechnender kleiner Erwachsener ohne beständiges, unabhängiges Ich, aber mit einem ungeheuren Maß an Narzißmus. Seine Hartgesottenheit und gleichzeitige Unterwürfigkeit angesichts realer Macht prädisponiert es für die totalitären Formen des Lebens.“5
Liebe Mütter, wer auch immer euch einreden will und wollte, dass Mutter zu sein das absolute Rückständigste sei, was man sich nur denken könnte, der hat definitiv Schwachsinn erzählt. Sorry, aber eure (zukünftigen) Kinder brauchen euch!
Außerdem möchten wir euch nochmal an den int. Frauentag von letztem Jahr erinnern. Denn da hatten wir das „Manifest der Mütter“ veröffentlicht.
Quellen, zuletzt aufgerufen am 06.03.2023
1: Horkheimer Max, Autorität und Familie in der Gegenwart. In: Derbolav, Josef und Nicolin, Friedhelm (Hrsg.): Erkenntnis und Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, Düsseldorf, 1960, Pädagogischer Verlag Schwann, | [Ebenfalls abgedruckt ist der Beitrag in Max Horkheimer: „Autorität und Familie in der Gegenwart“, in: Gesammelte Schriften, Band 5: ‚Dialektik der Aufklärung‘ und Schriften 1940 – 1950, Frankfurt a. M., 1987, Fischer Verlag S. 377-395]
2: Siehe dazu „Autorität und Familie“ (https://youngandfree-kaleb.de/autoritaet-und-familie/) bzw. „Wenn die Liebe erkaltet…“ (https://youngandfree-kaleb.de/wenn-die-liebe-erkaltet/)
3: Horkheimer Max, Autorität und Familie in der Gegenwart, siehe Fn. 1, S. 159
4: Horkheimer fügte bei „pädagogischer Hygiene“ folgende Fussnote ein: „Die moderne Psychologie und gewiß auch die fortschrittlichsten Magazine sind sich dieser Gefahren bewußt und suchen Rationalität durch noch mehr Rationalität zu kontrollieren. Im Film wird die aufgeklärte Mutter beschämt von der gütigen und verständnisvollen Freundin, die den Nikolaus auf einer höheren Ebene wieder einführt. Romantisierungen, wie verfeinert und ergötzlich sie immer sein mögen, verlagern jedoch meist nur das Problem, anstatt es zu lösen.“
5: Horkheimer Max, Autorität und Familie in der Gegenwart, siehe Fn. 1, S. 159f.; das Bild wurde von uns eingefügt.
Bildernachweis: Titelbild: https://unsplash.com/photos/lQL_A8cQyY8; Mutter_kind_am_Strand: https://unsplash.com/photos/2D5sGnLDfYk?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Kind_Sand_Hand: https://unsplash.com/photos/w6d5gYviOr0?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink; Mutter_Kind_auf_Arm: https://unsplash.com/photos/ry_sD0P1ZL0?utm_source=unsplash&utm_medium=referral&utm_content=creditShareLink
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