Was bedeutet das für den Staat oder für unsere Gesellschaft wenn Familie aus Vater, Mutter Kinder nicht mehr die Norm sein sollen? Was bedeutet es wenn Kinder nicht mehr aus der Liebe zweier Menschen entstehen, sondern durch Leihmutterschaft irgendwo gekauft werden? Was passiert dann mit einem Staat oder mit einer Gesellschaft?
Individualisierung: Zwei Seiten einer Münze
Der Rechtsphilosoph Prof. Dr. Andreas Kinneging schätzt die Antwort auf die eingangs gestellten Fragen wie folgt ein:
„Ja, also, das ist sehr deutlich was dann passiert. Nämlich eine radikale Individualisierung. Und dann ist das Ende, dass es nur Völker gibt von Einzelgängern. Leute, die alleine leben und vielleicht ein Verhältnis anfangen. Aber sehr unstabile Verhältnisse. Und, dass es sehr viel Isolation und Vereinsamung gibt. […] Radikale Individualisierung bedeutet impliziert einen sehr großen Staat. Einen totalen Staat. Weil das Individuum an sich immer klein und schwach ist und andere braucht. Aber da alle klein und schwach sind und individualisiert, hilft man einander nicht. Es gibt keine Gemeinschaften mehr. Und deshalb kommt es dazu, dass der Staat immer gefragt wird zu unterstützen und zu helfen. Und das bedeutet, dass radikale Individualisierung und ein immer totalitärerer Staat zwei Seiten derselben Münze sind.“1
Das Ende der Individualisierung…
Wir hatten vor ein paar Jahren den Blog „Wenn die Liebe erkaltet“ hochgeladen. Darin haben wir Meinhard Miegel und Stefanie Wahl aus ihrem Buch „Das Ende des Individualismus“ (1994) zitiert. Aufgrund der erschreckenden Aktualität der 1994(!) formulierten Worte, hier nochmal das Zitat:
„Aufgrund des Bedeutungsverlustes des Familienverbandes könnte der Staat zunehmend traditionelle Aufgaben der Familie übernehmen, wodurch diese weiter geschwächt werden dürfte. Auch hier könnte ein sich selbst verstärkender Kreislauf entstehen, der unter anderem zum weiteren Anstieg der Staatsquote beitragen könnte. In die gleiche Richtung dürfte die sich möglicherweiße immer weiter entsolidarisierende Gesellschaft wirken. Durch den Verfall natürlicher Solidarbindungen in der Familie und die abnehmende soziale Konditionierung der Bevölkerung im Familienverband könnte sich der Staat gezwungen sehen, durch eigenes Handeln fehlende gesellschaftliche Solidarität zu ersetzen. Hierdurch könnte eine wachsende Zahl von Menschen in unmittelbare Abhängigkeit vom Staat geraten. Ob Menschen aus dieser Abhängigkeit heraus die Träger staatlicher Funktionen noch demokratisch legitimieren und kontrollieren können, ist fraglich. Sollte dies nicht möglich sein, würde die Demokratie als politische Ordnung in Gefahr geraten.“
Müssen wir Schlagworte nennen? Kinderrechte? Schwangerschaftsabbruch? Ehe für Alle? Verantwortungsgemeinschaft?
…führt in den Vormundsstaat
Alexis de Tocqueville, Begründer der Vergleichende Politikwissenschaft, besuchte in den 1830er Jahren als Franzose die USA und analysierte dort damals die amerikanische Demokratie. Aus welchen Motiven er das auch immer tat, aber seine Analyse wollen wir euch in diesem Zusammenhang nicht vorenthalten:
„Ich bin der Ansicht, die Art der Unterdrückung, die den demokratischen Völkern droht, wird mit nichts, was ihr in der Welt voraufging, zu vergleichen sein; unsere Zeitgenossen würden ihr Bild in ihren Erinnerungen vergeblich suchen. Ich selbst suche vergeblich nach einem Ausdruck, der die Vorstellung genau wiedergibt, die ich mir von ihr mache, und der sie umfasst; die alten Begriffe Despotismus und Tyrannei passen nicht. Die Sache ist neu, und da ich sie nicht benennen kann, muss ich versuchen, sie zu beschreiben. Ich will entwerfen, unter welchen neuen Zügen der Despotismus sich in der Welt einstellen könnte: Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt: Seine Kinder und seine besonderen Freunde sind für ihn die ganze Menschheit [heute ist es ja nicht mal mehr das]; was seine übrigen Mitbürger angeht, so ist er zwar bei ihnen, aber er sieht sie nicht; er berührt sie, aber er spürt sie nicht; er lebt nur in sich und für sich selbst, und wenn ihm auch noch eine Familie bleibt, so kann man doch zumindest sagen, ein Vaterland hat er nicht mehr. Über diesen Bürgern erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. Sie ist absolut, ins Einzelne gehend, pünktlich, vorausschauend und milde. Sie würde der väterlichen Gewalt gleichen, hätte sie – wie diese – die Vorbereitung der Menschen auf das Mannesalter zum Ziel; sie sucht aber, im Gegenteil, die Menschen unwiderruflich in der Kindheit festzuhalten [Infantilismus] sie freut sich, wenn es den Bürgern gutgeht, vorausgesetzt, dass diese ausschließlich an ihr Wohlergehen denken. Sie arbeitet gern für ihr Glück; aber sie will allein daran arbeiten und allein darüber entscheiden; sie sorgt für ihre Sicherheit, sieht und sichert ihren Bedarf, erleichtert ihre Vergnügungen, führt ihre wichtigsten Geschäfte, leitet ihre gewerblichen Unternehmungen, regelt ihre Erbfolge und teilt ihren Nachlass; könnte sie ihnen nicht vollends die Sorge, zu denken, abnehmen und die Mühe, zu leben? Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger und seltener, beschränkt die Willensbetätigung auf ein immer kleineres Feld und entwöhnt jeden Bürger allmählich der freien Selbstbestimmung. Auf all das hat die Gleichheit die Menschen vorbereitet: hat sie bereit gemacht, es zu erdulden, ja es häufig sogar für eine Wohltat zu halten. So breitet der Souverän, nachdem er jeden Einzelnen der Reihe nach in seine gewaltigen Hände genommen und nach Belieben umgestaltet hat, seine Arme über die Gesellschaft als Ganzes; er bedeckt ihre Oberfläche mit einem Netz kleiner, verwickelter, enger und einheitlicher Regeln, das nicht einmal die originellsten Geister und die stärksten Seelen zu durchdringen vermögen, wollen sie die Menge hinter sich lassen; er bricht den Willen nicht, sondern er schwächt, beugt und leitet ihn; er zwingt selten zum Handeln, steht vielmehr ständig dem Handeln im Wege; er zerstört nicht, er hindert die Entstehung; er tyrannisiert nicht, er belästigt, bedrängt, entkräftet, schwächt, verdummt und bringt jede Nation schließlich dahin, dass sie nur noch eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere ist, deren Hirte die Regierung.“3
Quelle:
1: https://www.youtube.com/watch?v=F7xrIybQkhU
2: Meinhard Miegel & Stefanie Wahl, Das Ende des Individualismus, 1994, S. 114
3: Über die Demokratie in Amerika: Reclams Universal-Bibliothek von Alexis de Tocqueville; S.411ff. Kommentare in Klammern durch den Autor hinzugefügt
4: Die Bibel, 1. Buch Mose Kapitel 2 Vers 18
Bilder: Titelbild; Münze; Eisscholle; Überwachung;
Schreibe einen Kommentar