In der Expertenanhörung im Bundestag (10.02.2025), wir hatten darüber berichtet,1 sprach die Vorsitzende des Vereins Doctors for Choice Germany e.V., Dr. Alicia Baier, von einer „ungewollten, in ihr [der Frau] weiter wachsenden Schwangerschaft“.2 Das scheint uns doch eine sehr problematische, kurzsichtige, aber am Ende von Baier doch konsequente Auffassung von Schwangerschaft zu sein. Deswegen wollen wir ein paar Dinge klar stellen. Konsequent versteht sich.
Definition: Schwangerschaft
Als Schwangerschaft bezeichnet man den Zeitraum, in dem eine befruchtete Eizelle, in der Gebärmutter einer Frau, die in diesem Zeitraum auch Schwangere genannt wird, bis zur Geburt zu einem Kind heranreift. Dabei ist „[d]er genaue Zeitpunkt der Schwangerschaft […] sehr einfach, praktisch aber kaum festzulegen.“3,4 Denn hier spielt der Zeitpunkt der Empfängnis (der Zeitpunkt bei dem die Frau mit ihrem Partner Sex hatte und dabei Ei- und Samenzelle miteinander verschmelzen konnten) und der Beginn der letzten Menstruation eine entscheidende Rolle.
Bei der Befruchtung handelt es sich um die Verschmelzung der männlichen Samen- und weiblichen Eizelle. Rohen und Lütjen-Drecoll beschreiben dieses Ereignis in ihren Lehrbuch „Funktionelle Embryologie“ so: „Durch die Befruchtung ist aus den extrem einseitig differenzierten und gewissermaßen im Absterben befindlichen Geschlechtszellen (S+E) der Keim eines neuen Organismus geworden, die Zygote, die keinesfalls mit einer Körperzelle verglichen werden darf. Sie ist der Ursprung des neuen Individuums, in dem alles (potenziell) enthalten ist, was den späteren Organismus ausmacht. Es kommt nichts mehr hinzu. Die Zygote ist damit (funktionell) bereits das Ganze.“5
Wie der Titel des Lehrbuchs schon andeutet, gibt es ein ganzes Fachgebiet, das sich mit der befruchteten Eizelle, der Zygote, (die bereits von Anfang an ein neues Individuum ist), und ihrer Entwicklung beschäftigt.6 Die sog. Embryologie. „Wer sich mit der Embryologie befasst, berührt unweigerlich den Bereich des Wunderbaren. Wie aus zwei, dem menschlichen Auge unsichtbaren Zellen innerhalb von neun Monaten ein vollständiger Organismus heranreif, der bereit ist, mit Körper, Geist und Seele die Welt zu entdecken, bleibt bei aller detaillierten Kenntnis, die uns die Molekularbiologie und die Genetik darüber verschaffen können, schier unbegreiflich. Dabei geschieht es ganz selbstverständlich, zu jeder Zeit, ohne großes Zutun eines menschlichen ordnenden System.“7 Baier scheint diesen Fachbereich womöglich übersprungen zu haben.
Einfluss auf den Gesetzestext des §218 StGB
Das Bundesverfassungsgericht sieht es in seinem Urteil zum Schwangerschaftsabbruch der Embryologie entsprechend, als es 1993 feststellte, dass sich der ungeborene Mensch in seinem Reife- und Wachstumsprozess nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.8 Und Prof. Blechschmidt, von dem wahrscheinlich dieser Gedanke stammte,9 schrieb in einem seiner Bücher, dass ein Mensch nicht Mensch wird, sondern Mensch ist und sich als solcher schon von Anfang an so verhält,10 bzw. auch, dass „[e]in menschlicher Keim […] keine Bildung [ist], zu der nachträglich als Accidenz11 das Menschsein hinzukäme.“12
Natürlich, das wollen wir auch festhalten, gibt es im Verlauf der Schwangerschaft aus frauenärztlicher/gynäkologischer Sicht eine andere Gewichtung in Bezug auf die Entwicklung des Embryos als bei der Embryologie selber.13 Während sich die Embryologie für die gesamte Dauer der vorgeburtlichen Entwicklung des Menschen interessiert, ist für die gynäkologisch/frauenärztliche Sicht vor allem der Zeitpunkt nach der Nidation bzw. Implantation relevant. Implantation meint dabei den Zeitpunkt „[e]twa sechs Tage nach der Befruchtung“ bei dem die befruchtete Eizelle „beginnt […] sich einzunisten. Für den Körper der Frau beginnt die Schwangerschaft.“14
Das Bundesverfassungsgericht weiß um diese beiden unterschiedlichen Perspektiven. Das hat es damals in seinem Urteil ebenfalls zum Ausdruck gebracht. Es wusste um die Erkenntnisse der Embryologie, bezog sich in seiner Formulierung aber ausschließlich auf die Dauer der Schwangerschaft. Die Zeit also in der Kind und Mutter körperlich miteinander verbunden sind. „Es bedarf im vorliegenden Verfahren keiner Entscheidung, ob, wie es Erkenntnisse der medizinischen Anthropologie nahelegen, menschliches Leben bereits mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle entsteht. Gegenstand der angegriffenen Vorschriften ist der Schwangerschaftsabbruch, vor allem die strafrechtliche Regelung; entscheidungserheblich ist daher nur der Zeitraum der Schwangerschaft. Dieser reicht nach den – von den Antragstellern unbeanstandeten und verfassungsrechtlich unbedenklichen – Bestimmungen des Strafgesetzbuches vom Abschluß der Einnistung des befruchteten Eis in der Gebärmutter (Nidation […]) bis zum Beginn der Geburt.“15
Soll heißen: Was für die Urteilsfindung zum Schwangerschaftsabbruch wichtig war, war nur der Zeitraum der Schwangerschaft. Logisch, oder? Und dieser Zeitraum liegt zwischen der Nidation (bzw. Implantation in der Gebärmutter) und der Geburt des kleinen Menschen. Im daraus abgeleiteten Gesetzestext des §218 Absatz 1 hieß es dann so: „Wer eine Schwangerschaft abbricht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. Handlungen, deren Wirkung vor Abschluß der Einnistung des befruchteten Eies in der Gebärmutter eintritt, gelten nicht als Schwangerschaftsabbruch im Sinne dieses Gesetzes.“16
Zurück zu Frau Baier
Eine „ in [der Frau] weiter wachsenden Schwangerschaft“17 gibt es in dem Sinne nicht. Es ist die befruchtete Eizelle, Zygote, später Embryo oder Fötus genannt, die weiter wächst. Sie wächst über die Dauer der Schwangerschaft. Uns scheint Frau Baier bezieht sich nur auf die frauenärztliche Perspektive und verliert dabei die befruchtete Eizelle, die sich als Mensch entwickelt, völlig aus dem Blick. Aber, so schrieb es das Bundesverfassungsgericht kurz vor dem obigen Zitat schon, dass schon „dem ungeborenen menschlichen Leben [Menschenwürde] zu[kommt], nicht erst dem menschlichen Leben nach der Geburt oder bei ausgebildeter Personalität.“18 In dem man aber das ungeborene menschliche Leben begrifflich als „Schwangerschaft“ verschleiert oder gar weg lässt, tastet man seine Menschenwürde an.
Der blinde Fleck in der Argumentation für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verdeckt scheinbar immer, immer, immer den Embryo als individueller, sich von Anfang an entwickelnder, Mensch. Das ist nichts Neues und gleichzeitig immer Falsch. Es gibt keine „weiter wachsende Schwangerschaft“19. Es gibt den, wenn man ihn denn lässt, weiter wachsenden ungeborenen Menschen. Wer nur von der Schwangerschaft spricht hat nicht verstanden worum es geht. Im schlimmsten Fall will man es nicht verstehen. Das ist dann jedoch keine auf wissenschaftlicher und juristischer Evidenz basierte Argumentation.
Aber am Ende, eins muss man Baier lassen, sie bleibt in ihrer Argumentation konsequent. Zwar konsequent falsch. Aber konsequent. Mittlerweile weiß man woran man bei ihr ist. In „Aha! Zehn Minuten Alltags-Wissen“, dem Podcast von WELT.de, wurde Alicia Baier im November letzten Jahres gefragt „Wie läuft ein Schwangerschaftsabbruch ab?“20 Baier: „Beim medikamentösen Abbruch nimmt man zwei Tabletten im Abstand von zwei Tagen. Das erste Medikament hält die Schwangerschaft quasi an, das zweite löst dann die Krämpfe der Gebärmutter aus, die dann zu ’ner Blutung führen, und die Schwangerschaft wird ausgestoßen. Das ist im Grunde derselbe Mechanismus wie bei der Periode, nur dass die Blutung und auch die Krämpfe hier gewöhnlich bisschen stärker sind. Bei der operativen Methode […] da wird über die Vagina ein Röhrchen in die Gebärmutter eingeführt und die Schwangerschaft wird abgesaugt.“21 Und „Wichtig ist aber zu sagen: Zu jedem Zeitpunkt in der Schwangerschaft ist der Schwangerschaftsabbruch sicherer als die Fortführung der Schwangerschaft.“22 Das darf sie alles unkommentiert in einem quasi Monolog aufsagen. Baier muss es schließlich wissen. Sie ist die Ärztin. Sie ist die Expertin. Sie bezeichnet den Embryo konsequent als „die Schwangerschaft“.
Christian Rudolf von Corrigenda.Online hat mit „Die Sprache bringt es an den Tag“ eine sehr lesenswerte Kritik zu diesem Podcast geschrieben.23 Wer will, kann da jetzt gleich weiterklicken. Oder ihr fragt einfach mal den Peter.
1 https://youngandfree-kaleb.de/experten-streiten-ueber-neuregelung-des-schwangerschaftsabbruchs/, https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2025/kw07-pa-recht-schwangerschaftsabrueche-1038836, zuletzt aufgerufen am 18.02.2025.
2 Dr. med. Alicia Baier, Statement ca. 17:10 Uhr, Stenografisches Protokoll der 133. Sitzung, Rechtsausschuss, Berlin, den 10. Februar 2025, 17.00 Uhr, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Saal 3.101 (Großer Anhörungssaal), Adele-Schreiber-Krieger-Straße 1, 10117 Berlin, S. 10, https://www.bundestag.de/resource/blob/1050342/4ae341057e7c53385bed5cdca3273777/a06_133_prot.pdf, zuletzt aufgerufen am 20.02.2025.
3 Gruber Sarah, Gynäkologie und Geburtshilfe, 2012, 4. Auflage, München, Urban & Fischer Verlag, S.72.
4 Medizinische Embryologie, Jan Langmann, 1985, 7. Auflage, Thieme, S. 83.
5 Rohen & Lütjen-Drecoll, Funktionelle Embryologie, Georg Thieme Verlag KG, 6. Auflage, 2022, S. 22, Hervoheb. und Verlinkungen des Autors.
6 Siehe Galli Leda, Vom Leib zur Person, 2013, 1. Auflage, Fassbender, Wien, S. 53; https://youngandfree-kaleb.de/oder-man-ist-es-nie/.
7 Susanne Schulze; Embryologie Basics; Urban & Fischer Verlag; 2011; http://www.toolie.net/%5BElsev.%5D%20BASICS%20Embryologie%20(2011).pdf (zuletzt aufgerufen am 18.02.2025); Vorwort, Hervorheb. d. Autors.
8 Siehe https://www.bundestag.de/resource/blob/592130/21e336d47580c1faa15dbe23d999b62c/wd-7-256-18-pdf-data.pdf; Vgl. https://servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html, BVerfGE 88, 203 (251f.), zuletzt aufgerufen am 18.02.2025.
9 „Ein Mensch entwickelt sich nicht zum, sondern als Mensch.“: Siehe Blechschmidt Erich, Wie beginnt das menschliche Leben, 1989, 6. neubearbeitete Auflage, Christiana Verlag, S .158.
10 Siehe Blechschmidt Erich, Wie beginnt das menschliche Leben, 1989, 6. neubearbeitete Auflage, Christiana Verlag, S. 30.
11 Accidenz oder Akzidenz meint ein zufälliges Phänomen, das nicht unbedingt zum Wesen einer Sache gehört; https://de.wiktionary.org/wiki/Akzidens, zuletzt aufgerufen am 18.02.2025.
12 ebd., S. 31, Fussnote d. Autors.
13 Siehe Drews Ulrich, Taschenatlas der Embryologie, 1993, Thieme, S. 3.
14 Gruber Sarah, Gynäkologie und Geburtshilfe, 2012, 4. Auflage, München, Urban & Fischer Verlag, S.72.
15 https://servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html, BVerfGE 88, 203 (151), Hervorheb. d. Autors, zuletzt aufgerufen am 18.02.2025.
16 https://www.gesetze-im-internet.de/stgb/__218.html, Hervorheb. d. Autors, zuletzt aufgerufen am 18,02.2025.
17 Dr. med. Alicia Baier, Statement ca. 17:10 Uhr, Stenografisches Protokoll der 133. Sitzung, Rechtsausschuss, Berlin, den 10. Februar 2025, 17.00 Uhr, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Saal 3.101 (Großer Anhörungssaal), Adele-Schreiber-Krieger-Straße 1, 10117 Berlin, S. 10.
18 https://servat.unibe.ch/dfr/bv088203.html, BVerfGE 88, 203 (151), Hervorheb. d. Autors, zuletzt aufgerufen am 18.02.2025.
19 Dr. med. Alicia Baier, Statement ca. 17:10 Uhr, Stenografisches Protokoll der 133. Sitzung, Rechtsausschuss, Berlin, den 10. Februar 2025, 17.00 Uhr, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, Saal 3.101 (Großer Anhörungssaal), Adele-Schreiber-Krieger-Straße 1, 10117 Berlin, S. 10.
20 Aha! Zehn Minuten Alltags-Wissen, Wie läuft ein Schwangerschaftsabbruch ab?, Von Juliane Nora Schneider Redakteurin Podcast und Audio, Veröffentlicht am 18.11.2024, https://www.welt.de/podcasts/aha-zehn-minuten-alltags-wissen/article254228504/Abtreibung-Wie-laeuft-ein-Schwangerschaftsabbruch-ab.html, zuletzt aufgerufen am 21.02.2025.
21 ebd., Hervoheb. d. Autors.
22 ebd., Hervorheb. d. Autors.
23 Siehe Christian Rudolf, Die Sprache bringt es an den Tag, 12.11.2024, https://www.corrigenda.online/leben/welt-podcast-ueber-abtreibung-die-sprache-bringt-es-den-tag, zuletzt aufgerufen am 21.02.2025.
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